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Schule im Wedding: Fluchen ja, rechnen nein

Der Dokumentarfilm "Der Die Das" beobachtet den Alltag einer Grundschule in Berlin-Wedding. Die Babelsberger Drehbuch-Absolventin Sophie Narr hat die Weddinger Schulanfänger für ihren Diplomfilm bei den Stunden im Klassenzimmer und den Rangeleien auf dem Schulhof begleitet.

Spinnweben und Holunder, eine Schaukel im satten Grün. Dann zieht die Kamera ganz langsam ein wenig nach oben und gibt den Blick frei auf eine Straße und die grauen Häuserblocks dahinter. Keine laute Effekthascherei, nur ein zarter Hinweis darauf, dass Hässlichkeit und Schönheit oft nur ein Wechsel der Perspektive trennt.

Die Bilder stehen am Anfang von Sophie Narrs Dokumentarfilm „Der Die Das“. Sie kommen aus dem Berliner Wedding, vom Pausenhof der Anna-LindhSchule, laut eigenem Internet-Auftritt eine „verlässliche Halbtagsgrundschule und Schule mit Offenem Ganztagsbetrieb“, die dort auch mit Schwerpunkten in Umwelt- und Werteerziehung und Integration wirbt. Deutsch sprechende Eltern haben die wenigsten Kinder hier. Auch aus anderen – familiären und sozialen – Gründen fällt vielen das Lernen nicht leicht. Fuat und Laethicia, Sanita und Brights sind einige von den insgesamt zweiundzwanzig Erstklässlern der 1e, die sich im Klassenzimmer trotz aller Unterschiede gemeinsam auf Stift, Heft und die Erklärungen und Fragen der Klassenlehrerin konzentrieren sollen.

Die Babelsberger Drehbuch-Absolventin Sophie Narr hat die Weddinger Schulanfänger für ihren Diplomfilm bei den Stunden im Klassenzimmer und den Rangeleien auf dem Schulhof begleitet. Sechs Monate hat sie recherchiert und sich geduldig an ihre kleine Helden und Heldinnen herangetastet. Mühen, die sich auszahlen in der Intimität und Offenheit, mit der ihr Film in die rütli-belastete schulische Halbwelt hineinführt. Die beeindruckende Kamera der gleichfalls an der HFF ausgebildeten Kamerafrau Anne Misselwitz („Football Under Cover“) agiert mit beeindruckender Präsenz und zeigt dabei auch, dass Nähe nicht gleichbedeutend mit hektischen Wackeleffekten sein muss. Visuelle und emotionale Akzente setzen zwischen die beobachtenden Sequenzen montierte Einzelgespräche, denen als Leitbilder von den Kindern selbst gemalte Zeichnungen ihrer familiären Situation dienen. Der kleine Fuat, der wie ein Vierzehnjähriger fluchen kann und trotz aller Anstrengung beim Rechnen und Lesen kaum weiter kommt, fühlt sich von seinem getrennt lebenden Vater verlassen. Die als Prinzessin herausgeputzte Laethicia äußert als größten Wunsch, einmal die Mutter küssen zu dürfen. Und bei Sanita aus Bosnien agieren sich Ängste und Traumata in heftigen Agressionen aus.

In seinem Titel spielt „Der Die Das“ wohl auch auf den Film „Être et Avoir/ Sein und Haben“ von Nicolas Philibert an, der 2002 das mittlerweile in vielen Facetten erblühte Subgenre des schulangesiedelten Dokumentarfilms neu begründete. Von Großstadtsetting und betont nüchternem Ansatz her darf Narrs Film getrost als Gegenmodell zur eher sentimentalen französischen Zwergschulidylle gesehen werden. Gegen Philiberts heroischen Dorfschullehrer tritt im Wedding die Realität pädagogischer Überforderung. Was soll ein konzentrationsgestörter Sechsjähriger mit der Botschaft anfangen, er hätte noch ungenutzte Leistungsreserven? (Und, andere Frage: Was haben Kaiser, Zar und Gott eigentlich in einem republikanisch-deutschen Klassenzimmer zu suchen?) Dass manche sich dabei auch dunkel an die eigene Schulzeit erinnert fühlen werden, bleibt nicht aus. Nur eines ist jetzt im Kino anders: Im Lauf des Films wachsen uns sogar die damals so verabscheuten Zicken und Streberinnen ans Herz.

Nur im fsk

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