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Kinostarts : Wer Gewalt sät

Dramatisches Regiedebüt: „Picco“ – Philip Kochs Thriller aus dem Jugendgefängnis

Was Kevin getan hat, warum er ins Jugendgefängnis muss, ist für diese Geschichte nicht von Bedeutung. Der Junge mit den melancholischen Augen und dem Seitenscheitel ist ein „Picco“, so werden die Neulinge im Knast genannt. Einer, dessen Zahnbürste verdreckt wird und der, so beschließen es die Starken und Brutalen, nach dem Essen alle Eisenschüsseln in seiner Vierer-Zelle spülen muss. Einer, der noch Mitgefühl zeigt. Kevin ist ein Schwächling.

Der junge Regisseur Philip Koch orientiert sich in seinem ersten Spielfilm an realen Ereignissen. Vor allem der Foltertod eines Häftlings vor fünf Jahren in der Justizvollzugsanstalt Siegburg hat ihm als Drehbuchmaterial gedient. Koch zeichnet eine düstere Welt: Alles im Knast ist trostlos graublau – die Mauern, die Kleidung, der Himmel beim Freigang. „Es gibt kein Draußen mehr“, brüllt der Gewalttäter Marc (Frederick Lau), als Kevin an jene Welt erinnern will, die sich unbeschreiblich weit weg außerhalb der Mauern befindet. Wie zum Beweis zeigt der Film im Vorspann Wandschmierereien aus den Zellen. Auf einer von ihnen wird die Hoffnung mit dem Zusatz „Rest in Peace“ zu Grabe getragen.

Kevins unvermeidliche Anpassung an die Brutalitätsstrukturen im Knast – Constantin von Jascheroff gibt den „Picco“ verschlossen und mit wachsender Härte – dient Philip Koch als dramaturgisches Leitmotiv. Während alle anderen Charaktere bereits auf der moralischen Abwärtsspirale ganz unten angekommen sind, macht sich Kevin erst auf den Weg in den menschlichen Abgrund.

Zu Beginn versucht er noch, sich für Schwächere einzusetzen, doch der Knast bricht ihn. Aus Angst, selbst der Nächste zu sein, bleibt er bei einer Vergewaltigung tatenlos, der „Mit-Schwächling“ Tommy überredet ihn wegzuschauen. Bereits kurze Zeit später hilft Kevin, Tommy festzuhalten, während Marc und Andy (Martin Kiefer) einen Brief verbrennen. Es ist ein Lebenszeichen von draußen, eines, auf das der labile Tommy lange gewartet hat. Er bricht in Tränen aus, sein Ende ist besiegelt. Diese Szene ausnahmsweise ohne Schläge ist eine der brutalsten: Hier wird nicht ein Körper malträtiert, sondern eine Seele zerbrochen. Und auch Kevin leistet dem System des Verprügelns und Demütigens keinen Widerstand mehr.

„Picco“ zeigt diese Metamorphose in rasanter Geschwindigkeit – sicher zum mahnenden Beweis dafür, wie schnell Menschen zu Bestien werden, wenn sie in eine Welt voller Hass gestoßen werden. Das überwältigt mehr, als es beeindruckt. Denn wo Oliver Hirschbiegels „Das Experiment“ sich Zeit nimmt, um seine Protagonisten abstumpfen zu lassen, wo Jacques Audiards grandioser „Ein Prophet“ detailliert und akribisch die überlebenssichernde Verrohung eines jungen Mannes hinter Gittern nachzeichnet, passiert in „Picco“ vieles unvermittelt.

Unklar auch bleibt, warum Koch darauf verzichtete, die Rolle der Wärter präziser in den Fokus zu rücken. Nach dem Siegburg-Mord gab es massive Kritik, weil sie die Gemeinschaftszelle, in der sich der Mord ankündigte, betreten und wieder verlassen hatten, ohne sich um den sichtbar misshandelten Jugendlichen zu kümmern. In „Picco“ bleiben sie nette, etwas überforderte und vor allem gänzlich unbeteiligte Uniformträger.

Bei Kevin dauerte es nur 104 Tage, bis er zum Tier wurde, das schwächere Tiere tötet. Schließlich findet er nichts mehr dabei, in der Folter-Sequenz an einer Pro-und-Contra-Liste mitzutun, derzufolge es möglich wird, den zum Opfer bestimmten Tommy auch ohne jeden Grund sterben zu lassen. Zu seinem Ende hin ist „Picco“, sicher wiederum in Abstoßungsabsicht, von ungeheurer und ungeheuer lang ausgespielter Brutalität. Im eher soften deutschen Filmwesen dürfte der klaustrophobische Thriller in dieser Hinsicht Maßstäbe setzen. Die Chance aber, jenseits der spektakulären Oberfläche Gruppenprozesse in Gefangenschaft auszuloten und damit die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Haftbedingungen anzuregen, verpasst er.

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