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Vatikan

© AFP

Kirche: Die Verliese des Vatikan

Ausreden helfen nicht mehr: Wie der Papst die Aufklärung von Missbrauch verhindert hat. Ein Gastbeitrag des politischen Philosophen und Publizisten Paolo Flores d’Arcais.

Jahrzehntelang wurden Tausende pädophiler Priester gedeckt, nicht den Strafverfolgungsbehörden gemeldet, es wurde ihnen damit eine Straffreiheit verschafft, die es ihnen möglich machte, den Missbrauch von zigtausenden (manchmal behinderten) Kindern und Jugendlichen fortzusetzen. Dafür sind Joseph Ratzinger und Karol Wojtyla unmittelbar verantwortlich. Ob ihre Verantwortung moralischer oder juristischer Natur ist, werden in Kürze amerikanische Gerichte klären. Die moralische Verantwortung ergibt sich jedenfalls aus Dokumenten, die der „Osservatore Romano“, das amtliche Organ des Heiligen Stuhls, vor einigen Tagen erneut veröffentlicht hat.

Dabei geht es keineswegs um einzelne Fälle von Vertuschung auch im Umfeld der Kirchen-„Justiz“, die inzwischen erwiesen sind und über die vor allem die amerikanischen und deutschen Medien berichtet haben. Es geht um die Verantwortung beider Päpste für sämtliche Fälle von Missbrauch innerhalb der Kirche, die nicht der staatlichen Justiz angezeigt wurden. Entscheidend ist folgender Punkt: Der Pontifex und der Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation verpflichteten bindend alle Bischöfe, Priester und ihr Hilfspersonal, im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen innerhalb der Kirche nichts an die Behörden durchsickern zu lassen.

Zugegeben haben sie das selber. Der „Osservatore Romano“ hat Johannes Pauls II. Apostolisches Schreiben („Motu proprio“) nachgedruckt, das „dem Apostolischen Gerichtshof der Kongregation ... Verstöße gegen die Moral“ vorbehält, also „den Verstoß gegen das sechste Gebot, soweit es ein Kleriker mit einem unter 18-Jährigen begeht“. Ebenfalls abgedruckt wurde die „Instruktion“, die Ausführungsbestimmungen der Glaubenskongregation, die unmissverständlich vorschreiben: „Immer, wenn der zuständige Bischof oder Vorgesetzte von einem zumindest wahrscheinlichen, vertraulich zu behandelnden Delikt erfährt, soll er dies nach einer Voruntersuchung der Glaubenskongregation melden.“

Alle „notitiae criminis“ fließen folglich an der Spitze der Hierarchie zusammen. Papst und Präfekt sind insofern über alles informiert, mehr noch: Sie sind die einzigen, die alles wissen – und sie allein sind es auch, die das erste und letzte Wort über die weiteren Schritte haben. Die Höchststrafe, die praktisch nie verhängt wurde, ist die Rückversetzung des Klerikers in den Laienstand. Normalerweise beschränkte man sich darauf, ihn von einer Pfarrei in die nächste zu schieben. Wo er natürlich sein kriminelles Tun fortsetzte. Eine rein kanonische „Strafe“ also. An die Strafverfolgungsbehörden hingegen darf keine Anzeige gehen: „Fälle dieser Art unterliegen dem päpstlichen Geheimnis.“ Was heißt das?

Erklärt wird das in einem vatikanischen Dokument vom März 1974, einer „Instruktion“, die der damalige Kardinalstaatssekretär Jean Villot auf Weisung von Papst Paul VI. herausgab: „In einigen Angelegenheiten von größerer Bedeutung wird eine besondere Geheimhaltung verlangt, das päpstliche Geheimnis, das streng gewahrt werden muss… Das päpstliche Geheimnis betrifft…“ und nun folgt eine Fülle von Fällen, darunter sexueller Missbrauch. Noch interessanter ist die sorgfältige Auflistung jener, „die verpflichtet sind, das päpstliche Geheimnis zu wahren“: „Die Kardinäle, die Bischöfe, höhere Würdenträger, höhere und niedrigere Angestellte, Berater, Sachverständige, Personal geringeren Ranges, die Legaten des Heiligen Stuhls und deren Mitarbeiter“ und so weiter.

Mit anderen Worten: ausnahmslos alle. Der „Schmutz“, wie Papst Benedikt es nannte, sollte unter den „Geheimnissen des Vatikans“ bleiben und unerreichbar für die allzu weltliche Neugier von Polizei und Staatsanwälten. Die Straffreiheit pädophiler Priester sollte umfassend und sicher sein. Um dieses Ziel zu erreichen, wird sogar ein Eid von erschütternder Feierlichkeit verlangt: „Die, die unter dem päpstlichen Geheimnis stehen, sollen mit folgender Formel schwören: ‚Ich verspreche in Gegenwart von … und auf Gottes Heiliges Evangelium, getreu das päpstliche Geheimnis zu wahren, so dass mir in keiner Weise und unter keinem Vorwand, sei es um eines höheren Gutes willen, sei es aus dringendem und schwerwiegendem Grund, erlaubt sei, das genannte Geheimnis zu verletzten. So wahr mir Gott helfe und sein Heiliges Evangelium, das ich mit meiner Hand berühre.“ Eine feierliche, fürchterliche Formel, die jeden Kommentar überflüssig macht. Und die tragische und zerstörerische Konsequenzen für Tausende Menschenleben hatte.

Alle hier genannten Instruktionen sind noch in Kraft. Der Eid hat seinen Zweck erfüllt. Der „gute Name“ der Kirche stand immer an erster Stelle, auf Kosten tausender Kinder. Angesichts derart sprechender offizieller Dokumente wird man allerdings blass, dass niemand von den Spitzen der Amtskirche, vom Papst und vom Präfekten der Glaubenskongregation, Rechenschaft für soviel offen bekannte Verantwortung verlangt. In einem Interview von „30 Giorni“, der Monatszeitschrift der konservativen katholischen Laienorganisation „Comunione e Liberazione“ von Februar 2002 konfrontierte der fragende Journalist Monsignore Bertone, der zum Zeitpunkt von Ratzingers Instruktion Bischof von Vercelli war und Sekretär der Glaubenskongregation (also, damals wie heute, Ratzingers Vize), mit den offensichtlichen Sorgen der Bürger: „Man könnte natürlich denken, dass alles, was außerhalb des Beichtstuhls gesagt wird, nicht zum ,Berufsgeheimnis’ eines Priesters gehört…“ Bertone antwortete ungerührt: „Wenn ein Gläubiger sich einem Priester nicht einmal mehr frei außerhalb des Beichtstuhls anvertrauen kann…. Wenn ein Priester dies nicht mehr seinem Bischof gegenüber kann, weil auch er fürchten muss, angezeigt zu werden … dann heißt das, dass es keine Gewissensfreiheit mehr gibt.“ Gewissensfreiheit also. Jene Gewissensfreiheit, die die Moderne gegen die Kirche – die hielt das für Teufelswerk – und dank des Heldentums einiger häretischer Geister errungen hat, die dann auch umgehend auf den Scheiterhaufen geschickt wurden. Jetzt wird sie ins Feld geführt, damit Tausende pädophiler Priester straffrei ausgehen können.

Was soll da noch das Gerede von der „groben Propaganda gegen den Papst und die Katholiken“ („Osservatore Romano“), von „lügnerischen Anschuldigungen“ (Kardinal Angelo Scola), „ehrenrührigen und falschen Beschuldigungen“ (Kardinal Carlo Maria Martini) und vieler anderer mehr, wenn die Dokumente des Vatikans selbst verraten, wie eisern sich die Kirche weigerte, auch nur zu denken, man könne die Täter der weltlichen Justiz anzeigen? Wobei man wissen muss, dass das „Motu proprio“ und die „Instruktion“ von 2001 aus einer Zeit stammen, die als eine der besonderen Strenge der Kirche gegen pädophile Priester galt. Man kann sich vorstellen, was zuvor galt.

Kardinal Sodano, der Vorsitzende des Kardinalskollegiums, gibt sich als Opfer: „Die Gemeinschaft der Christen fühlt sich zu Recht verletzt, wenn man versucht, sie in Bausch und Bogen in die ebenso schwerwiegenden wie schmerzhaften Taten einiger Priester zu verwickeln, indem man in wirklich unverständlicher Weise persönliche Schuld und Verantwortung in kollektive umdeutet.“

Nein, Eminenz, niemand denkt auch nur im Traum daran, die gesamte Christenheit einzubeziehen. Es geht hier nur um die katholische Amtskirche und ihr Spitzenpersonal. Es ist leider eine gesicherte Tatsache, dass der Wunsch, diese Verbrechen schlicht innerhalb des kanonischen Rechts aufzuarbeiten und übergriffige Priester in aller Regel lediglich von einer Pfarrei in die nächste abzuschieben, der pädophilen Pest erst die Ausbreitung ermöglicht hat.

Dafür alle Gläubigen in Haftung zu nehmen, Eminenz, ist ein schmutziges Spiel. Ich habe meine Zweifel, ob die große Mehrheit der Gläubigen vom „päpstlichen Geheimnis“ wusste und ob sie damit einverstanden gewesen wäre, die Namen pädophiler Priester unter den Geheimnissen des Vatikans zu begraben, um den „guten Ruf“ der Kirche zu schützen.

Aber zurück zum eigentlichen Punkt. Wojtyla und Ratzinger haben gefordert und durchgesetzt, dass pädophile Vergehen nur als Sünden behandelt wurden statt als Verbrechen oder höchstens als Verbrechen im Sinne des Kirchenrechts und nicht als solche, die man unmittelbar der weltlichen Justiz hätte melden sollen. Wenn der amtierende Papst wirklich das enorme Ausmaß des „Schmutzes“ verstanden hat und auch, dass er auf der Ebene weltlicher Justiz bekämpft werden muss, kann er das ganz leicht zeigen: Indem er sofort das „Motu proprio“ und die ominösen „Instruktionen“ außer Kraft setzt, die sich auf das Papstgeheimnis beziehen, und indem er sie durch die Pflicht ersetzt, jeden Fall sofort der Justiz anzuzeigen. Und die Archive allen Gerichten öffnet, die darum bitten. Schließlich haben einige Länder ein Zeitfenster von einem Jahr geöffnet, um auch länger zurückliegende Taten der Verjährung zu entziehen.

Dies umso mehr, als diese Amtskirche, die sich jahrzehntelang gehütet hat, ihren Diözösen Zusammenarbeit zu empfehlen, um die Sünde der Pädophilie ihrer Hirten als Verbrechen zu bestrafen, dieselbe ist, die mit Hilfe staatlicher Gesetze zu Verbrechen machen will, was in ihren Augen Sünde ist: Abtreibung, Euthanasie, künstliche Befruchtung, Verhütung... Für viele sind dies einfach Bürgerrechte, wenn auch solche, die nur unter Leid und Schmerzen ausgeübt werden.

Paolo Flores d’Arcais, 1944 im Friaul geboren, ist einer der einflussreichsten politischen Philosophen und Publizisten Italiens. Als Herausgeber der linken Zweimonatsschrift „MicroMega“ (temi.repubblica.it/micromega-online) gehört er zu den Stützen der Anti-Berlusconi-Bewegung. In Deutschland wird er beim Berliner Wagenbach Verlag verlegt. Zuletzt erschien dort „Gibt es Gott? Wahrheit, Glaube, Atheismus“, die Neuausgabe seines Dialogs mit Joseph Ratzinger. Den hier gekürzt wiedergegebenen Essay aus „Il Fatto“ hat Andrea Dernbach übersetzt.

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