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Kirill Petrenko

© dpa

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker: Friede, Freude, Freiheit

Fast vier Jahre nach seiner Wahl präsentieren Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker ihre erste gemeinsame Saison 2019/20.

Er gibt zwar seit zehn Jahren keine Interviews mehr – doch daraus abzuleiten, dass Kirill Petrenko ein großer Schweiger wäre, ist grundfalsch. Denn der russische Dirigent ist im Deutschen absolut eloquent. Wenn er denn mal offensiv in der Öffentlichkeit spricht, wie am gestrigen Nachmittag bei der Saisonpressekonferenz der Berliner Philharmoniker, dann tut er das ebenso sympathisch wie leidenschaftlich.

Volle 25 Minuten dauern die Erläuterungen Petrenkos zu den Programmen seiner ersten Spielzeit mit dem Orchester, das ihn im Juni 2015 überraschend zum künstlerischen Leiter gewählt hat. Nach nur drei gemeinsamen Projekten. Und wer ihm zuhört, ahnt, warum dieses Minimum an Zusammenarbeit ausgereicht hat, um größtes Vertrauen in den Mann mit dem Meckischnitt, den blitzenden Augen und dem verschmitztem Schmunzeln zu setzen.

Dass er mit Beethovens Neunter loslegt am 23. August, möge vielleicht auf den ersten Blick allzu konventionell erscheinen. Doch ihm sei es damit absolut ernst. „Denn es gibt nur ein Werk, mit dem ich meine Tätigkeit hier beginnen könnte. Weil die Botschaft der Neunten alles enthält, was uns als Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen.“

Das deutsch-österreichische Kernrepertoire will er pflegen

Diese Sinfonie steht an der Grenzen von Klassik und Romantik – und dieses deutsch-österreichische Kernrepertoire will Petrenko mit den Philharmonikern pflegen. Auf seine Weise natürlich: Nicht rückwärtsgewandt, nicht um „den alten Weihrauch heraufzubeschwören“, sondern mit Entdeckergeist, mit der Haltung eines Künstlers von heute, der die Quellen studiert hat, der die Forschungsergebnisse der Musikwissenschaft kennt. „In diesem Orchester sind 28 verschiedene Nationalitäten vertreten“, sagt Petrenko, und fügt hinzu, dass auch er „von ganz, ganz weit“ herkomme – womit er die sibirische Stadt Omsk meint, in der er 1972 geboren wurde. Diese diverse Truppe, so lautet Petrenkos Credo, möge in der gemeinsamen Arbeit an einen Punkt gelangen, dass jeder für sich sagen können: „Mit diesem Ur-Repertoire identifiziere ich mich.“

Noch faszinierender als Petrenkos Fähigkeit, Musik in Worte zu fassen – das wird am Montag in den Reaktionen der beiden Musikervertreter deutlich, dem Orchestervorstand Alexander Bader wie dem Medienvorstand Olaf Maninger – aber muss seine Probenarbeit sein. Beide Herren neigen normalerweise nicht zu Superlativen, hier aber kommen sie ins Schwärmen, wie man Repräsentanten dieses äußerst kritischen, extrem selbstbewussten Orchesters noch nie hat schwärmen hören: Für Alexander Bader geht die Zeit der vierjährigen Vorfreude seit der Wahl Petrenkos nun endlich damit zu Ende, „dass wir ihn über die Schwelle ins Haus tragen können“. Es sei „einfach herrlich“, findet Olaf Maninger, dass nun eine neue Zeit beginne: „Wir waren schockverliebt vom ersten Moment an.“ Nach den vier Programmen, die man in Petrenkos Designatus-Phase zusammen aufgeführt hat, fühlt es sich an, „als könne man einen ganz tollen Weg miteinander beschreiten“, ja, als könnten ihnen Konzerte gelingen, „wo die Menschen anders herausgehen als sie hereingekommen sind“.

Los geht's mit Beethovens Neunter

Mal sehen, wie lange diese Euphorie anhalten wird, wenn jetzt der Alltag beginnt. Wobei Kirill Petrenko es in seiner ersten Saison langsam angeht, langsam angehen muss, weil er parallel ja auch noch seine letzte Spielzeit als Generalmusikdirektor der Münchner Staatsoper absolviert. Von den 82 Konzerten, die die Berliner in der kommenden Spielzeit in der Philharmonie anbieten, dirigiert er lediglich 16. Nach dem offiziellen Auftakt wird er die 9. Sinfonie auch tags darauf bei einem kostenlosen Konzert vor dem Brandenburger Tor anlässlich des 30. Jubiläums des Mauerfalls dirigieren. Insgesamt plant Petrenko zum 250. Beethoven-Geburtstag „die drei großen Fs“:Neben der Neunten, die für „Freude“ steht, die „Missa solemnis“, die für „Frieden“ steht und die Oper „Fidelio“, die für „Freiheit“ steht.

Zu Silvesterkonzerte wird es einen Ausflug an den Broadway geben, mit Werken von Gershwin, Bernstein und Weill, im Januar folgen dann Beethovens 3. Klavierkonzert mit Daniel Barenboim als Solisten sowie Josef Suks „Asrael“-Sinfonie. Den Tschechen, der sowohl Schüler als auch Schwiegersohn von Antonin Dvorak war, liebt Petrenko schon lange, hält ihn für einen der wahrhaft großen spätromantischen Komponisten, der zu Unrecht ein Schattendasein im Repertoire fristet. Er hofft, ihm mit seinem Engagement zu einer Renaissance verhelfen zu können: „Josef Suks Zeit muss jetzt endlich kommen.“

Präsenter als in Berlin wird Petrenko auf Tourneen sein

Gustav Mahlers vierte und sechste Sinfonie hat sich der neue Chefdirigent für weitere Programme vorgenommen, außerdem kombiniert er die „Symphonischen Tänze“ von Sergej Rachmaninow, der ebenfalls zu seinen Lieblingskomponisten zählt, mit Strawinskys „Sinfonie in drei Sätzen“ und Bernd Alois Zimmermanns „Alagoana“-Ballettmusiksuite. Großartig findet er die Education-Projekte der Philharmoniker, auch wenn er lieber von „Musikvermittlung“ spricht. Sein erster Beitrag dazu soll Puccinis Oper „Suor Angelica“ sein, die er zusammen mit der orchestereigenen Karajan-Akademie sowie Teilnehmern und Teilnehmerinnen des „Vokalhelden“-Programms einstudiert.

Deutlich präsenter als in Berlin wird Kirill Petrenko in seiner ersten Saison bei den Tourneen der Philharmoniker sein. Und das mit gutem Grund: Denn so hochgeschätzt er im deutschen Sprachraum ist, international war er bis zu seiner Wahl zum Rattle-Nachfolger noch weitgehend ein Geheimtipp. Was auch damit zusammenhängt, dass bis heute gerade einmal sieben kommerzielle CD-Aufnahmen Petrenkos auf dem Markt sind, von denen sich vier auch noch dem Oeuvre von Josef Suk widmen.

Warum er bislang so wenig ins Studio gegangen ist, hat der Dirigent einmal mit diesen Worten zusammengefasst: „Ich finde, Musik sollte mehr live entstehen und weniger auf Sicherheit produziert werden.“ Bei der ersten CD-Veröffentlichung mit Petrenko auf dem Philharmoniker-Label, wird es sich darum auch um einen Konzertmitschnitt handeln. Die Interpretation von Tschaikowskys sechster Sinfonie aus dem März 2017 kommt am 10. Mai heraus.

Ab 2020/21 will er jährlich eine Uraufführung dirigieren

Dennoch will Kirill Petrenko auch künftig vor allem als Live-Künstler wahrgenommen werden. Darum die Tourneen, die 2019/20 nach Salzburg und Luzern führen werden, nach Bukarest, Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt, Dresden, Tel Aviv, Jerusalem, Budapest, Prag, Wien, Amsterdam, Brüssel und Luxemburg.

Einige Einblicke in seine mittelfristige Programmplanung gibt der neue Chefdirigent am Montag dann auch noch: Ab der Saison 20/21 will er jedes Jahr eine Uraufführung leiten, außerdem will er für osteuropäische Komponisten wie Georges Enescu und Leos Janacek werben, für russische wie Glinka, Glière oder auch Scriabin und für deutsche des 20. Jahrhunderts wie Paul Hindemith, Karl Amadeus Hartmann und Bernd Alois Zimmermann.

Anders als seine Vorgänger Claudio Abbado und Simon Rattle will Petrenko den Philharmonikern das allgemeine „Du“ übrigens nicht anbieten. Vom „Sie“, sekundieren die beiden Orchestervertereter, komme man gerade in der Kunst, wo Konflikte unvermeidlich sind, dann doch leichter zum „Wir“.

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