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Im Fadenkreuz. Kirill Serebrennikow kann nicht mehr ausreisen.

©  dpa/Bernd Weissbrod

Kirill Serebrennikow: Jetzt prüfen sie auch noch, ob sein Pass echt ist

Der Fall des Regisseurs Kirill Serebrennikow zeigt: In Putins Russland herrscht eine neue Form der Zensur. Sie kennt - anders als zu Sowjetzeiten - keine starren Regeln, sondern ist subtil und unberechenbar.

Seit dem Wochenende ist es offiziell. Regisseur Kirill Serebrennikow darf Russland auf absehbare Zeit nicht verlassen. Die seit dem Frühjahr laufenden Auseinandersetzungen der Behörden mit dem international gefragten Künstler, der 2016 an der Komischen Oper Berlin den „Barbier von Sevilla“ inszenierte, nehmen immer kafkaeskere Züge an.

Jetzt hat die Moskauer Staatsanwaltschaft eine kriminaltechnische Untersuchung von Serebrennikows Pass angeordnet, der bereits im Mai eingezogen worden war. Was Monate später an dem Dokument zu untersuchen wäre, erklärte die Behörde nicht. Man prüfe die Echtheit, hieß es – als bestünde der Verdacht, das Dokument sei in der Requisiten-Abteilung von Serebrennikows Theater Gogol-Zentrum gefertigt worden. Für die unabsehbare Dauer dieses Verfahrens darf der Künstler nicht ins Ausland. Unter den derzeitigen Umständen ist es für Serebrennikow unmöglich, seine für Oktober geplante Inszenierung von Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ in Stuttgart zu realisieren.

Der 48-Jährige steht in Russland wegen zwei Geschichten unter Druck, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Sie erwecken aber den Eindruck, an Serebrennikow solle ein Exempel statuiert werden, um kritische Intellektuelle sechs Monate vor den Präsidentenwahlen einzuschüchtern und zu disziplinieren. Als kritische Stimme gegen die offizielle Kulturpolitik und die Machtzentrale Kreml hat sich Serebrennikow oft zu erkennen gegeben. So protestierte er etwa 2008 gegen den russischen Krieg in Georgien. Seine Unterschrift fehlt unter der Ergebenheitsadresse an Putin, die zahlreiche Künstler nach den letzten Präsidentenwahlen unterzeichnet haben.

Zum einen geht es um den Vorwurf der Unterschlagung. 2012 hatte der Regisseur die künstlerische Leitung des Moskauer Gogol-Zentrums übernommen. Seine Vorgängerin charakterisierte das Theater einmal als Einrichtung mit schlüssigem künstlerischen, aber ohne schlüssiges ökonomisches Konzept. Eine Beschreibung, die wohl auf viele Theater zutrifft. Im Mai durchsuchte die Staatsanwaltschaft seine Wohnung und das Theater. Der Verdacht: Subventionsbetrug. Serebrennikow war Zeuge in dem Fall, doch letzte Woche belastete ihn seine Buchhalterin schwer. Sie habe die Bilanzen auf Anweisung Serebrennikows frisieren müssen, sagte sie vor Gericht aus. Die ältere Dame war wie eine Schwerverbrecherin in Handschellen in den Saal geführt worden und musste in einer Art Aquarium hinter Panzerglas Platz nehmen. Nach der Aussage winkt ihr nun Straffreiheit.

Zum anderen geht es um das legendäre Bolschoi-Theater. Dort hatte Serebrennikow gemeinsam mit Choreograf Juri Possochow ein Ballett über Rudolf Nurejew inszeniert, den sowjetischen Tänzer, der sich in den Westen abgesetzt hatte und an Aids gestorben ist. Seine bisexuelle Neigungen standen im Fokus des Stücks, das als Höhepunkt der diesjährigen Bolschoi-Saison angekündigt war. Drei Tage vor der Premiere wurde es abgesetzt. Angeblich war es nicht fertig gewesen.

Beide Vorgänge stehen durchaus im Zusammenhang. Der heißt: Zensur. Selbst in sowjetischen Zeiten, so russische Medien, sei es nie vorgekommen, dass ein Stück so kurz vor der Premiere abgesetzt wurde. Der Fall Serebrennikow macht die Unterschiede zwischen der sowjetischen Zensur und der Zensur der Putin-Ära augenfällig. Die sowjetische war brachial und berechenbar. Sie ging nach relativ stabilen Regeln vor, und sie wurde von Ideologiesekretären und Kulturabteilungen des Zentralkomitees überwacht. Jeder Künstler konnte sich ausrechnen, an welcher Stelle er die Grenzen überschritt. Zu den intellektuellen Herausforderungen gehörte es, die Überwacher zu überlisten.

Gegen die Zensur unter Putin ist List hingegen kein wirksames Mittel, denn sie ist unberechenbar und subtil, funktioniert nicht über ideologische Grundsätze und erkennbare Exekutoren. Ihre Methode ist Verunsicherung, ihre hocheffektiven Werkzeuge sind Strafverfolgungs- und Finanzbehörden. Und ein immer intoleranterer, konservativ-autoritärer öffentlicher Diskurs, der nicht nur auf verbale, sondern tatsächliche Verbannung aus der Mehrheitsgesellschaft zielt.

Das bekommt nicht nur Serebrennikow zu spüren. Derzeit tobt eine regelrechte Schlacht um den Film „Matilda“ von Alexei Utschitel. Der erzählt die Geschichte des künftigen Zaren Nikolaus II. mit der Tänzerin Matilda Kschessinskaja (1872 –1971). Die russische Kirche hat den Zaren heiliggesprochen, Ultra-Nationalisten und Orthodoxe laufen deshalb Sturm gegen den angeblich blasphemischen Film. Sie fordern, die Staatsmacht möge ihn verbieten. Die hält sich jedoch scheinbar heraus und erteilte nun eine Freigabe mit der Altersbeschränkung „+16“. Inzwischen ist um den Film jedoch eine geradezu rufmörderische Atmosphäre entstanden. Jeder, der ihn sich jetzt noch im Kino ansieht, gerät unter Umständen in den Verdacht, kein russischer Patriot zu sein. Regisseur Utschitel kann sich diesen Umgang mit seinem Werk nicht erklären.

Auch Serebrennikows „Nurejew“-Aufführung ist nicht verboten, nur verschoben. Die Produktion soll im Mai 2018 herauskommen. Da lauert jedoch eine weitere Falle: Homosexualität ist in Russland nicht strafbar, wohl aber seit 2013 „homosexuelle Propaganda“. Das heißt, jede wahrhaftige Darstellung der Künstlerpersönlichkeit Nurejews auf einer Bühne setzt sich nicht nur einer Gefahr aus, sie erfüllt in Putins Russland objektiv einen Straftatbestand. Frank Herold

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