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Kultur: Klanghypnose

Leiser Triumph: Der Pianist Igor Levit im Konzerthaus

Andächtiger Gottesdienst, und das an einem gewöhnlichen Montagabend im kleinen Saal des Konzerthauses. Wie kein zweiter Pianist seiner Generation zwingt der 1987 in Nizhni Nowgorod geborene und in Deutschland ausgebildete Igor Levit sein Publikum in kunstreligiöse Verzückung. Der Abend kommt ohne Applaus zwischen den Stücken aus, ohne das für alle mühsame An- und Abtreten des Solisten vor und nach den einzelnen Lieferungen. Stattdessen nagelt Igor Levit die drei d-Moll-Stücke im ersten Programmteil fest über ihren Grundton d aneinander.

Keine Macht dem Glamour, alle Macht dem musikalischen Werk: eine kleine, kostbare Passacaglia aus dem 17. Jahrhundert, deren zartes Trillergedöns so gar nicht zum modernen Konzertflügel passen will; Beethovens „Sturm“-Sonate mit ihrer Neigung zum formal Fantastischen, deren Pausen schon im ersten Satz raumheischend sind bis zur vollständigen Dissoziierung und deren Adagio Levit mit Lauterkeit, sogar Frömmigkeit spielt; schließlich Brahms’ Bearbeitung von Bachs großer d-Moll-Chaconne, in der in besonderem Maße jene fast anachronistische Innigkeit und Konzentration aufscheint, die den ganzen Abend bestimmt.

Einiges ist sonderbar. Igor Levit sieht eher aus wie ein sportiver Clubbesucher als ein Konzertpianist. Mitunter stakst er über die Tasten oder drückt sie nieder, als ob es Widerstand vom Instrument gäbe. Sein Repertoire überschneidet sich nur zum Teil mit dem der Wald- und Wiesenvirtuosen seines Alters; den ersten Programmteil dürfte man in technischer Hinsicht vielleicht sogar überschaubar nennen. Wäre nicht das Virtuositätsspektakel nach der Pause, die vier Stücke aus Liszts italienischem „Année de pèlerinage“ mit der grandiosen Finalpassage der „Fantasia quasi sonata“, die Liszt nach einer Dante-Lektüre schrieb, so müsste man meinen, Levit könne gar nicht wie die anderen. Er kann natürlich doch. Virtuosität aber ist an dieser Stelle der neue Ennui.

Die viel wichtigere Stärke Igor Levits liegt in einem dramaturgischen Vermögen, das ganze Stückeketten überspannen kann und das die Zuhörerschaft in ein eigentümliches Zwischenreich aus Hypnotisierung bei vollem Bewusstsein drängt. Nirgends wird dies deutlicher als in der totalen Stille, die sich über den ausverkauften Saal legt, nachdem die letzten Töne von Liszts Paraphrase von Vorspiel und Liebestod zu Wagners „Tristan“ verklungen sind – und in der Interpretation dieser Zugabe selbst. Denn Levit verweigert sich dem Erregungsgetrampel, das andere Pianisten triumphierend über die harmonischen Progressionen der letzten Momente legen. Er nimmt diese Höhepunkte vollständig antiklimaktisch, lässt nur leise atmen, zieht sie ins Geistige, nicht Körperliche, bei äußerster Sinnlichkeit der Farben. Das ist ganz, ganz große Kunst. Christiane Tewinkel

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