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Kultur: Klassenkämpfer suchen Klasse

Gewerkschaften in der Krise: Ihre alte Rolle haben sie verloren. Was nun? Was tun?

Es gibt vermutlich kaum ein Gewerkschaftsamt, das Anni Gondro nicht ausgeübt hätte. Sie war Vorstandsmitglied, Betriebsrätin und Personalratsvorsitzende, sie war ehramtliche Arbeitsrichterin, Rundfunkrätin und im AOK-Verwaltungsrat. Ein Leben in der Gewerkschaft, ein Leben für die Gewerkschaft, und wenn die kleine weißhaarige Frau auf dieses Leben zurückblickt, erzählt sie vom Arbeitskampf um die Einführung des Ladenschlussgesetzes oder von einem Streik zur Durchsetzung gleicher Bezahlung von Frauen und Männern. Sie erzählt von den Holzschuhen, die sie sich und ihren frierenden Kolleginnen 1947 organisiert hat und von der Einführung der ersten Computer drei Jahrzehnte später. Und dann sagt die 87-Jährige stolz: „Wir haben viel durchgekämpft.“

Dabei hat Anni Gondro mit dem Kämpfen noch gar nicht aufgehört. Noch immer stapeln sich in ihrem Wohnzimmer Akten und Aufrufe. Gerade erst hat die rüstige Seniorin mit ihren Mitstreiterinnen verhindert, dass die städtischen Altenheime in Hannover privatisiert werden. Und als die 87-Jährige vor ein paar Wochen in ihrem kleinen Reihenhaus am Stadtrand für ihre 60-jährige Gewerkschaftsmitgliedschaft geehrt wurde, da merkte Oberbürgermeister Stephan Weil deshalb genauso spöttisch wie bewundernd an: „Es würde sich im Rathaus niemand trauen, Anni Gondro etwas abzulehnen.“

In Hannover ist Anni Gondro eine Institution, genauso wie die Gewerkschaften in Deutschland eine Institution sind, fest eingebunden in die betriebliche und die Unternehmensmitbestimmung sowie die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Rund 160 Jahre ist die Gewerkschaftsbewegung mittlerweile alt. Entstanden sind die ersten Zusammenschlüsse im 18. Jahrhundert als berufsständische Hilfsorganisationen, mit der industriellen Revolution entwickelten sie sich als Teil der Arbeiterbewegung zu Massenorganisationen. Sie wurden unterdrückt, verfolgt, geduldet, in der Weimarer Republik kamen weltanschaulich und parteipolitisch geprägte Gewerkschaften zu einer ersten Blüte. 1933 wurden diese von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet. In der DDR war der FDGB als zentralistische Einheitsorganisation fest in den SED-Staat eingebunden.

Im Westen hingegen wurde die Gewerkschaftsbewegung nach dem zweiten Weltkrieg unter der dem Dach des DGB wieder gegründet, mit autonomen Einzelgewerkschaften, weltanschaulich neutral, zumindest formal parteipolitisch unabhängig, aber tatsächlich personell eng verflochten mit der Sozialdemokratie. In der alten Bundesrepublik, im rheinischen Kapitalismus gehörten die Gewerkschaften neben den Volksparteien und den Kirchen zu tragenden Pfeilern der Nachkriegsgesellschaft. Kritiker sprachen bereits vom Gewerkschaftsstaat.

Vorbei. Nicht nur der alte Sozialstaat westdeutscher Prägung steckt in der Krise, sondern auch der DGB. Nur noch 6,5 Millionen Deutsche sind in dessen acht Einzelgewerkschaften organisiert, vor 16 Jahren waren es noch doppelt so viele. Der betriebliche Organisationsgrad ist damit auf durchschnittlich rund 15 Prozent gesunken. IG Metall, Ver.di und Co. haben ein Imageproblem, sie gelten als ewige Blockierer und auch deswegen haben sie Mobilisierungsschwierigkeiten. Die viel beschworene und genauso häufig verfluchte Macht der Gewerkschaften bröckelt.

Nicht einmal mehr Streik ist das, was er einmal war. In der Belzigerstraße in Berlin-Schöneberg zumindest lässt sich seit Mitte Mai ein seltsames Schauspiel beobachten. Eine kleine Gruppe erwachsener Menschen hat sich weiße Plastikleibchen übergezogen. Sie stehen den ganzen Tag ein wenig gelangweilt auf dem Bürgersteig vor einem heruntergelassenen Gitter herum, schimpfen über „Riesensauereien“, „Zumutungen“ und „Betrug“. Gelegentlich blasen sie in ihre Trillerpfeifen. Als ein „Bonzenauto“ auftaucht, stellen sie sich demonstrativ in den Weg, damit es die Einfahrt zum Betriebshof nicht passieren kann. Streikposten nennt sich dieses Schauspiel, doch die meisten Passanten eilen achtlos vorbei.

Es ist ja auch nicht einmal ein ordentlicher Streik, zu dem die Gewerkschaft Ver.di bei der Telekom aufgerufen hat. Kaum ein Rad steht still bei dieser Arbeitsniederlegung, die die Kunden der Telekom nicht spüren sollen, weil diese sowieso schon in Scharen zur billigen Konkurrenz davonlaufen. Richtig laut darf es auch nicht werden, weil die Kollegen bei der Konkurrenz sonst mitbekämen, dass sie mit gewerkschaftlichem Segen für deutlich weniger Geld dieselbe Arbeit machen. Von einer erbitterten Auseinandersetzung ist jedenfalls nichts zu spüren. Klassenkampf sieht anders aus.

Zum Beispiel wie jener Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein vor 50 Jahren, der zu den längsten in der Geschichte der Bundesrepublik gehörte. 34 000 Arbeiter legten damals 38 Betriebe still, vor allem die Werften. Und erstmals streikten diese nicht für höhere Löhne. Die Arbeiter forderten, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall den Angestellten gleichgestellt zu werden. Ein harter Streik war dies, der das Land polarisierte. Nach 14 Wochen, zwei gescheiterten Schlichtungen und vier Urabstimmungen endete dieser am 15. Februar 1957 mit einem historischen Erfolg.

Der gesellschaftliche Druck war so stark, dass sich die Regierung Adenauer anschließend sogar gezwungen sah, den Tarifabschluss zum Gesetz zu erheben. Die Gewerkschaften sahen sich als Vorkämpfer grundlegender sozialpolitischer Veränderungen und hatten sich durchgesetzt.

Die Zeiten waren ja auch gar nicht so schlecht. Es gab Vollbeschäftigung, steigende Löhne, Wohlstand und Aufstiegschancen. Die Gewerkschaften erkämpften nicht nur höhere Löhne, sondern auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld, den arbeitsfreien Samstag und die 40 Stundenwoche. Aus der politischen Gegenmacht, die in den Nachkriegsjahren vergeblich für Wirtschaftsdemokratie und staatliche Planung gestritten hatte, war ein verlässlicher und einflussreicher Sozialpartner geworden. Wie kein anderer verkörperte der langjährige ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker die Gewerkschaft der Wirtschaftswunderjahre. Selbstbewusst war „der Dicke“ und ein harter Verhandler. Für viele war Kluncker der mächtigste Gewerkschaftsführer in der Geschichte der Bundesrepublik, ein Arbeiterführer, der Kanzler stürzen konnte.

1974 erstreikte die ÖTV unter Führung von Kluncker eine elfprozentige Lohnerhöhung. Dabei steckte die Bundesrepublik mitten in einer Rezession, die öffentlichen Haushalte machten erstmals Milliardenschulden. Trotzdem beteiligten sich 300 000 Beschäftigte an der Arbeitsniederlegung. In vielen Städten fuhren keine Straßenbahnen, der Müll blieb liegen. Nach drei Tagen knickten die öffentlichen Arbeitgeber ein. Die Autorität Willy Brandts war beschädigt, denn der sozialdemokratische Bundeskanzler hatte sich zuvor auf einen Lohnabschluss unter 10 Prozent festgelegt. Nicht viele Beobachter sahen in diesem Tarifabschluss eine Ursache für dessen Rücktritt drei Monate später.

Willy Brandt hat nur intern über Klunckers Illoyalität geklagt, ein anderer sozialdemokratischer Kanzler hingegen warf 31 Jahre später zwei Gewerkschaftsvorsitzenden vor, seinen Sturz betrieben zu haben. Doch da war die Welt schon eine andere. Das Land wiedervereinigt, die Welt globalisiert, die Arbeitsbeziehungen unübersichtlicher, die gewerkschaftsfreien Zonen in der New Economy und in Ostdeutschland groß. Die Zahl der Arbeitslosen hatte 2005 in Deutschland die 5 Millionen Marke überschritten und die Bundesregierung versuchte, die Arbeitsmarktpolitik zu reformieren. Die umstrittene Agenda 2010 wurde verabschiedet, aber Rot-Grün gleichzeitig im September 2005 abgewählt. Eine Mitschuld daran gab Gerhard Schröder dem IG-Metall-Chef Jürgen Peters und dessen Ver.di-Kollege Frank Bsirske: „Die wollten mich zu Fall bringen.“

Dabei hatte der Kampf gegen die rot-grünen Reformen auch für die IG Metall und Ver.di mit einer schmerzhaften Niederlage geendet. Nach nur einer Großdemonstration in Berlin war ihre Kampfkraft gegen die Hartz-Reformen erlahmt. Gleichzeitig musste die IG-Metall 2003 einen Streik zur Einführung der 35- Stunden-Woche in Ostdeutschland ergebnislos abbrechen.

Die Not der IG-Metall lässt sich in Potsdam besichtigen. Eine kleine Truppe Nachwuchsgewerkschafter organisiert dort engagiert und rührig Seminare, Konzerte und Demonstrationen. Einmal im Monat treffen sie sich im Ortsjugendausschuss. An diesem Mittwoch sind es nur sieben. Stolz zeigen die Jugendlichen ein Foto vom 1. Mai herum, an dem sie mit ihrem Transparent die Potsdamer DGB-Demo anführen durften. Schlagkräftig ist die Truppe nicht, das muss auch Jugendsekretär Dietmar Kolpin „doch mal offen einräumen“. Von „Angst“ ist anschließend viel die Rede, von „zu hohen Beiträgen“ und von „Unkenntnis“. „Keiner hat mehr Lust etwas zu machen“, klagt einer der Jugendlichen, zumal die Freizeitangebote vielfältig sind. Die hohe Arbeitslosigkeit sei Schuld, sagt Dietmar Kolpin, weil ihnen Hartz IV drohe, ließen sich viele Menschen alles gefallen.

Das ist nur die halbe Wahrheit. Die Gewerkschaften haben auch hausgemachte Probleme. Sie haben die digitale Revolution verschlafen, nur schwerfällig auf die flexibilisierte Arbeitswelt reagiert und zu lange nur die alte heile Arbeitswelt verteidigt. Dabei zeichnete sich schon in den achtziger Jahren die Krise der Gewerkschaften ab. Die Massenarbeitslosigkeit setzte die Arbeitnehmer unter Druck, die Arbeitgeber setzten nicht länger auf Kooperation, sondern auf Deregulierung, Privatisierung und Lohnverzicht. Auch der linke Zeitgeist war plötzlich ein anderer. Die gewerkschaftlichen Rituale und Parolen waren nicht mehr gefragt. Basisdemokratie war angesagt und individuelle Selbstverwirklichung. Mit der Ökologie gab es ein neues Thema, das die Massen mobilisierte.

Interne Affären taten ein Übriges. So musste 1992 der IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler wegen des Vorwurfs von Insidergeschäften mit Daimler-Benz-Aktien zurücktreten. Der VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Volkert landete vor zwei Jahren zeitweise sogar in U-Haft, weil er illegale Zahlungen in Millionenhöhe angenommen haben soll. Bis heute unvergessen ist jedoch vor allem der Skandal um die Neue Heimat. Größenwahnsinnige Gewerkschaftsmanager hatten aus ursprünglich gemeinnützig organisierten Genossenschaften das größte Wohnungsunternehmen Europas geschmiedet. Sie bauten im großen Stil Trabantenstädte, in Bremen-Vahr, am Hasenbergl in München, und sie verloren den Überblick. Am Ende waren die Wohnungen weg, stattdessen blieben etwa 8 Milliarden Euro Schulden zurück. Um diese zu begleichen, musste sich die gewerkschaftseigene Beteiligungsgesellschaft unter anderem von der Bank für Gemeinwirtschaft und der Volksfürsorge-Versicherung trennen. Die Idee der genossenschaftlichen Gewerkschaftsunternehmen, die einst eine wichtige Säule der Arbeiterbewegung waren und die den Entwurf einer besseren Gesellschaft darstellen sollten, diese Idee war gescheitert.

Es gibt allerdings auch Orte, an denen funktioniert die alte Gewerkschaft noch. Zum Beispiel bei Wabco in Hannover, wo 2600 Beschäftigte elektronische Bremssysteme für LKWs herstellen. 80 Prozent der Arbeiter sind organisiert und als die IG-Metall kürzlich eine Lohnerhöhung von 4,1 Prozent erstritt, da waren die Wabco-Beschäftigten selbstverständlich geschlossen in den Warnstreik getreten.

Jens Schäfer ist 32 Jahre alt und Betriebsrat bei Wabco. Als Auszubildender ist er in die IG-Metall eingetreten, das überzeugende Argument seiner Kollegen lautete vor 16 Jahren: „Es sind alle drin.“ Wabco ist ein Traditionsbetrieb, der in Hannover-Linden schon seit 1884 produziert. In dem Stadtteil ist Wabco der größte Arbeitgeber und so ist auch Jens Schäfer erst in den Betrieb „reingewachsen“ und dann auch in die Gewerkschaft. Inzwischen sitzt er im braunen Rollkragenpullover in dem geräumigen Betriebsratsbüro und kümmert sich als Freigestellter um alle Lohnfragen. Da gäbe es eine Menge zu tun, sagt er, denn viele Fragen, die früher von den Tarifpartnern generell vereinbart wurden, müssten mittlerweile einzeln in den Betrieben geregelt werden.

Der Betrieb wird also immer wichtiger, die Betriebsräte werden immer einflussreicher. Doch damit werden die Gewerkschaften gleichzeitig zu Interessenverbänden. Mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen werden nicht mehr dort erkämpft, wo sie gebraucht werden, sondern dort, wo die Beschäftigten gut organisiert sind, zum Beispiel bei der Telekom oder in der Metallindustrie, nicht aber im ostdeutschen Handwerk. Auch die Gewerkschaften tragen also dazu bei, dass die Schere in der Arbeitswelt zwischen den Normalarbeitsverhältnissen und dem, was neudeutsch Prekariat heißt, weiter auseinandergeht. Zumal inzwischen außerhalb des DGB kleine, aber schlagkräftige Berufsverbände, wie die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Ärztevereinigung Marburgerbund, entstanden sind, denen Klientelinteressen wichtiger sind als Solidarität.

Die Gewerkschaftslandschaft verändert sich. Die Konkurrenz wird größer, die Funktionäre verlieren ihren Einfluss. So beschloss die IG Bau kürzlich, ihre Arbeit noch stärker als bisher in die Betriebe zu verlagern. Andere Einzelgewerkschaften bauen ihren Service aus, vermitteln Reisen zu Vorzugspreisen, verkaufen vergünstigt Bücher oder Theaterkarten. Mitmachgewerkschaft heißt das Motto, das Mitglied wird zum Kunden.

Einer, der diese Entwicklung mit großer Skepsis beobachtet, ist Detlef Hensche. Bis 2001 war er der letzte Vorsitzende der IG Medien, bevor diese in der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di aufging. Den täglichen Stress eines Spitzenfunktionärs hat er mit dem massiven Eichenschreibtisch eines Rechtsanwaltes getauscht. Aus der SPD ist er wegen der Agenda 2010 ausgetreten, stattdessen hat sich der 69-Jährige der Linkspartei angeschlossen. „Krisenverschärfend“ nennt Hensche die Hinwendung zum Betrieb. Seinen ehemaligen Kollegen empfiehlt er vielmehr eine Strategie der Re- Politisierung. Der IG-Metall hätte Hensche empfohlen, sich nicht mit 4,1 Prozent Lohnerhöhung zufrieden zu geben, sondern „mal richtig zuzulangen“. „Ein großer Streik würde der Gesellschaft gut tun“, sagt er. Die Gewerkschaften müssten zeigen, „dass sie noch eine gesellschaftliche Autorität darstellen“. Davon hänge ihr Wohl und Wehe ab.

Doch so einfach ist die Gewerkschaftswelt nicht mehr. Selbst beim Thema Mindestlohn zeigt sich das Dilemma. Einerseits können die Gewerkschaften wie zuletzt in den sechziger Jahren wieder betriebliche und sozialpolitische Forderungen verknüpfen. Schließlich befürworten drei Viertel aller Deutschen einen gesetzlichen Mindestlohn. Trotz des Aufschwungs hat die Angst vor Hungerlöhnen inzwischen die Mittelschicht erreicht. 7,50 Euro gesetzlichen Mindeststundenlohn fordern die acht DGB-Gewerkschaften. Doch andererseits haben dieselben Gewerkschaften in manchen Branchen sehr viel niedrigeren Tarifen ihren Segen gegeben. Zu dem gefährdet ein staatlicher Mindestlohn die Tarifautonomie und damit die gewerkschaftliche Machtbasis.

Das Dilemma ist nicht zu lösen.

Die alten Zeiten kommen nicht zurück.

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