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KLASSIK-CD  der Woche: Die Kraft der frühen Jahre

Sergiu Celibidaches "Berlin Recordings" sind jetzt in einer 12-CD-Box erschienen

Im Juni 1945 gewinnt ein unbekannter Maestro, der zuvor nur Laien- und Studentenformationen dirigiert hat, den Wettbewerb um die Leitung des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters. Ende August kann er dann bereits bei den Philharmonikern einspringen, nachdem deren Interimschef Leo Borchardt versehentlich von einem US-Wachsoldaten erschossen worden war. Direkt im Anschluss an das Konzert werben ihn die Musiker ab. Bis 1953 wird Sergiu Celibidache das Musikleben der zerbombten Stadt prägen, mit sagenhaften 400 Auftritten. Der stürmische Rumäne fasziniert die Berliner, sein Feuer, seine Leidenschaft, die mitreißende Musikalität, mit der er einerseits die Klassiker verlebendigt und andererseits ein Repertoire (wieder-)entdeckt, das im Dritten Reich verboten war: Schostakowitsch und Prokofjew, Darius Milhaud und Bela Bartok, jüdische Komponisten aller Epochen, neue Werke britischer und amerikanischer Provenienz.

Bald nach der Re-Inthronisierung des entnazifizierten Wilhelm Furtwängler als Philharmoniker-Chef 1952 wird Sergiu Celibidache jegliche Aufnahmetätigkeit einstellen. Bis zu seinem Tod 1996 erachtete er dann Tonkonserven als künstlerisch inakzeptabel. Die jetzt aus Masterbändern verschiedener Rundfunkarchive zusammengestellte 12 CD-Box mit dem Titel „The Berlin Recordings“ (audite) stellt damit also einen Querschnitt durch sein offiziell festgehaltenes interpretatorisches Oeuvre dar. Manches hat aufgrund bescheidener Tonqualität vor allem dokumentarischen Charakter, einige Werke sind musikgeschichtlich eher unerheblich. Und doch war jedes dieser Konzerte bedeutend in seiner Zeit, war Seelennahrung für die Musiker wie für ihr Publikum im Alltag der schweren ersten Nachkriegsjahre.

Immer noch sehr frisch wirken Celibidaches Interpretationen von Mendelssohns „Italienischer“ oder Bizets C-Dur-Sinfonie, eher altmodisch, romantisierend dagegen sein Zugriff auf Mozart und Haydn. Unter den heute vergessenen Werken stechen das „Vorspiel zu einem Revolutionsdrama“ von Celibidaches Lehrer Heinz Tiessen hervor oder auch Walter Pistons 2. Sinfonie. Mit der wunderbaren Erna Berger gestaltet er Reinhold Glières „Konzert für Koloratursopran und Orchester“, César Cuis „In modo populari“ hält, was der Titel verspricht.

Am 24.7.1945 entstand die Aufnahme von Ferruccio Busonis „Berceuse élégiaque“. Das Stück trägt den Untertitel „Des Mannes Wiegenlied am Sarg seiner Mutter“. Welche Gefühle mag es unter den Trümmerfrauen im Publikum ausgelöst haben, von denen die allermeisten gerade erst an den Gräbern der eigenen Söhne gestanden hatten?

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