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Das Chamber Orchestra of Europe hat sich einen zweiten Sitz in Deutschland gesucht.

© Julia Wesely

Klassische Musiker und der Brexit: Die Selbstverstümmelung

Das Chaos um den Brexit lässt Kulturschaffende verzweifeln – auch britische Klassikmusiker, die auf dem Kontinent leben und arbeiten. Eine Reportage aus Berlin.

„God save the queen – and fuck Brexit!“ Diese klare Formel steht auf den T-Shirts, die das britische Musical-Comedy-Duo „Carrington-Brown“ nach der Show im Tipi am Kanzleramt verkauft. Seit mehr als zehn Jahren lebt das Ehepaar in der deutschen Hauptstadt. Rebecca Carrington hat klassisches Cello studiert, Colin Brown war früher Schauspieler in der Shakespeare Company. Um nach dem Brexit ohne Probleme „in Europa“ weiterarbeiten zu können, haben die beiden schon vor längerer Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Gerade vor ein paar Tagen konnten sie nun ihre deutschen Pässe beim Bürgeramt abholen, sind mit Stempel und Unterschrift endlich „richtige Deutsche“.

Und Carrington und Brown müssen auch unbedingt in Deutschland bleiben, anderswo wäre ihre Arbeit gar nicht denkbar – meint Colin Brown. „Deutsche lieben Selbstironie! Das ist der Grund, warum wir hier so viel Erfolg haben.“ Wenn er auf seinem Dudelsack Haydns Nationalhymne nahtlos in Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ übergehen lässt, ist es ebendiese Fähigkeit zur Selbstironie, die das Publikum heftig applaudieren lässt. Für den Brexit haben die Comedians in den letzten Monaten eine „Operetta“ komponiert, sie wird im Mai in Süddeutschland und Ende 2019 auch in Berlin zu erleben sein. Der Brexit sei eine Katastrophe für das Land, heißt es da in der Arie mit dem absichtlich falsch geschriebenen Namen „Turnadot“ – ein Titel, der nicht zufällig an Puccini erinnert. „Wir sollen ,Turandot‘ machen“, erzählt Rebecca Carrington, „aber wegen des Brexits ist die ganze Produktion noch in England. Nur wir beide haben es geschafft – weil wir einen deutschen Pass haben. Nun müssen wir allein auf die Bühne gehen und spielen.“

Als Comedians können Carrington- Brown den Brexit wenigstens mit Humor nehmen. Anders Elisabeth Wexler und Enno Senft, die im Chamber Orchestra of Europe spielen. Das Orchester, von Claudio Abbado 1981 in London gegründet, braucht für seine Europa-Tourneen unbedingte Reisefreiheit, erzählt Senft, der Stimmführer der Kontrabassisten ist. „Unser Instrumentendepot ist in London: Kontrabässe, Pauken, Trompeten, Noten müssen für jede Tournee herübergefahren werden. Wir wissen aber nicht, ob wir nach dem Brexit damit überhaupt über die Grenze kommen. Keiner kann uns das sagen.“ Um auf die Unwägbarkeiten besser reagieren zu können, richtet sich das Orchester gerade einen zweiten Geschäftssitz in der deutschen Stadt Kronberg ein. Betreut wird es dabei von Andreas Richter. Der Berliner Kulturmanager schätzt, dass es ungefähr zwei Jahre dauern wird, bis sich der europäische Musikbetrieb nach dem Brexit neu orientiert hat. In dieser Zeit könnten britische Orchester von der Konkurrenz auf dem Kontinent abgehängt werden. „Da werden natürlich andere Orchester, andere Agenturen, andere Künstler die Plätze besetzen. Es ist ein harter Konkurrenzkampf.“

Das Comedy-Duo Rebecca Carrington und Colin Brown.
Das Comedy-Duo Rebecca Carrington und Colin Brown.

© Hans Ackermann

Neben den wirtschaftlichen und logistischen Problemen ist der Brexit für die Geigerin Elisabeth Wexler vor allem eine große menschliche Enttäuschung: „Unsere Kinder haben deutsche Pässe und damit das Glück, Europäer zu sein. Ich als Britin werde diese europäische Identität nun verlieren. Das ist traurig und macht mich wütend.“ Auch bei einem Umzug des Orchesters nach Deutschland wird das Musikerehepaar aus London seine britische Heimatstadt aber niemals im Stich lassen. 80 Prozent der Londoner hätten gegen den Brexit gestimmt, sagt sie, und Senft ergänzt: „Nirgends gab es eine größere künstlerische Bewegungsfreiheit als an der Themse, London ist für freischaffende Musiker ein Paradies, ein eigenes Land. Zehn Millionen Menschen wohnen dort. Ich mag diese Art und Weise, wie man dort in Musikerkreisen miteinander umgeht, kollegial und freundlich. Ich mag die Engländer, deshalb bin ich auch so traurig darüber, dass es jetzt zu diesem Bruch kommt und das Land so gespalten ist. Das ist einfach völlig unbritisch.“

Auch Bariton Benjamin Appl lebt seit fast zehn Jahren in London. Seine Wohnung im Londoner Stadtteil South Kensington liegt nicht weit vom Flughafen Heathrow entfernt. Von dort aus fliegt er für seine Liederprogramme in die ganze Welt. Mit deutschem Pass kann Appl dem Brexit einigermaßen gelassen entgegensehen, seine berufliche Existenz ist nicht bedroht. Bei seinen britischen Sängerkollegen aber bringt die Verzweiflung ebenso verzweifelte Taten hervor. „Es gibt Kollegen, die buddeln, ob sie vielleicht irischen Vorfahren haben. Andere überlegen, eine Deutsche zu heiraten, um irgendwie einen europäischen Pass zu bekommen. Man merkt wirklich, wie die Angst umgeht.“

Unsicherheit, Enttäuschung und Trauer – diese Gefühle kennt auch die gebürtige Schottin Eleanor Forbes. Sie unterrichtet als Professorin für Gesang in Dresden, ihr Ehemann Stewart Emerson bildet an der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Opernsänger aus. Beide haben schon seit Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft, aber wie es für ihre Familienmitglieder in England weitergeht, ist ungewiss: „Meine beiden Neffen zum Beispiel, 17 und 20 Jahre alt: Sie leben in London, der jüngere will Kontrabassist werden, der ältere studiert Informatik. Ihre Zukunft wird nicht bedacht, sie konnten nicht abstimmen. Es müsste deshalb ein zweites Referendum geben, um ein Meinungsbild zu bekommen. Und wenn es wirklich nicht weitergeht, dann muss man den Artikel 50 zurücknehmen, also das Ganze abbrechen!“

Bariton Benjamin Appl.
Bariton Benjamin Appl.

© Hans Ackermann

Im Bereich klassische Musik hatten und haben Briten in Berlin häufig Spitzenpositionen inne: Justin Doyle beim Rias Kammerchor, Robin Ticciati beim Deutschen Symphonie-Orchester. Simon Halsey hat bis 2015 den Berliner Rundfunkchor geleitet – und dann ist da natürlich Simon Rattle, bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Er widmet sich jetzt der Leitung des London Symphony Orchestra, wohnt aber weiterhin in Berlin. Den Brexit hat er schon 2017 als „Akt der Selbstverletzung“ bezeichnet und damals erzählt: „Ich habe das London Symphony Orchestra einen Tag nach der Brexit-Abstimmung besucht, einige Musiker haben geweint.“

Das Ganze abbrechen, den Brexit stoppen: Diese verzweifelte Hoffnung ist bei britischen Professoren und Musikern immer wieder zu hören. Gelingt das nicht, sagt der in Hannover arbeitende Dirigent Andrew Manze, sollte der Brexit einfach immer wieder aufs Neue verschoben werden – „am besten bis an mein Lebensende!“ Manze, der mit seiner Familie in Schweden lebt, will sich dort nun auch um eine „europäische Staatsbürgerschaft“ bemühen. Denn als Brite sehe man in Europa einer ungewissen Zukunft entgegen: „Großbritannien erlebt jetzt einen wirklich besonderen Moment. So eine Entscheidung gab es noch nie. Obwohl natürlich auch in der Vergangenheit weitreichende Entschlüsse getroffen werden mussten – etwa, ob wir in den Krieg ziehen. Doch solche Entscheidungen wurden dem Land von außen aufgezwungen.“ Mit dem Brexit dagegen füge sich das Land selbst eine Wunde zu. „Ich glaube nicht, das schon viele Staaten so folgenschwere Entscheidungen getroffen haben. Vielleicht werden wir später zurückblicken und ein Land sehen, das sich ohne Not selbst in Schwierigkeiten gebracht hat. Ich hoffe, dass andere daraus lernen und nicht den gleichen Fehler begehen.“

Hans Ackermann

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