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Kultur: Kleine Wunderwerke

Jorge Pardo lotet bei neugerriemschneider Grenzen von Kunst und Design aus

Die Ausstellung von Jorge Pardo ist eines dieser kleinen Wunder, auf das man immer hofft, aber zu selten erfährt. Denn beim Verlassen der Galerie rotierte ein attraktiver Widerspruch im Kopf: Es war ganz offensichtlich, dass jedes Objekt der Schau für sich genommen ohne Bedeutung ist, die Ausstellung aber keineswegs. Wie lässt sich dieses Auseinanderdriften erklären? Der 1963 geborene Pardo lebt seit seiner Emigration von Havanna in Los Angeles und gehört zu den maßgeblichen Künstlernzwischen , wenn es um Skulptur, Design und Lifestyle geht. Mit ihm, Tobias Rehberger und Rirkrit Tiravanija war die Galerie neugerriemschneider 1996 aufgebrochen, die Grenzen der Skulptur seit Minimal Art und Konzeptkunst neu zu definieren. 1999 hatte Pardo den gesamten Boden der Galerie mit orange-gelben Fliesen zum Leuchten gebracht. Eine Fliesenlegerarbeit? Die Pop-Variante zu Carl Andre? Farbtonmalerei? Kunstwerk gar? Hätte er diese Auslegearbeit in einem Geschäft für Inneneinrichtung gezeigt, wäre in punkto Kunstwert kein Aufhebens gemacht worden. Nur in einer Galerie konnte er offensiv einen noch zu definierenden Kunstcharakter behaupten. Automatisch war die Definitionsmacht der Galerie im Spiel. Denn falls der Vorstoß ins Leere laufen sollte, würde man es als Hochstapelei unter den Tisch fallen lassen und die Preise senken müssen. Doch soweit kam es nicht.

Pardos variantenreiche Entwürfe halten mit jeder Werkserie den prekären Widerspruch flexibel. Seine Kaskaden von Lampen im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam, seine Stühle in der neuen Messe in Leipzig, sein Interieur im Abgeordnetenhaus des Bundestages, seine Wandarbeiten und Möbel allüberall erfüllen wie Design-Objekte Funktionen des täglichen Gebrauchs, sind aber im Reflexionswinkel der Kunst-Parameter deshalb bedenkenswert, weil sie Fragen nach den Grenzen der Kunst herausfordern und den Grenzwächtern attraktive Unklarheiten vorlegen. Seine Werke sind nicht zweckfrei. Ihre profanen Gebrauchswerte widersprechen nur im Kontext der Ausstellung den heiligen Anschauungswerten nicht – vereinzelt sehr wohl. Sie müssen, wie auch in der aktuellen Ausstellung, inszeniert werden.

In der abgedunkelten Galerie hängt ein halbes Dutzend Leuchtkörper von der Decke wie Vögel auf Wippen. Neben zwei Schaukelstühlen steht eine mannshohe Säule: vorne Spiegel, hinten Uhr. An einer Wand ziehen sich hauchdünne Tücher entlang. Ein leichter Wind weht vom Eingang her und setzt die Dämmer-Idylle in vage Schwingung (Preise von 10000 Euro bis 65000 Euro). Es lassen sich leicht kunsthistorische Evergreens wie Arkadien, Melancholie, Schattenwelt einspielen. Doch werden sie verstummen, sobald die Objekte zerstreut ihren Platz beim sammelnden Publikum eingenommen haben. Dann steht Gebrauch und Anschauung zu jedermanns Belieben und die Objekte haben nur die Bedeutung, die ihnen verliehen wird. Pardo bedient sich der Addition. Eine Lampe ist eine Lampe. Aber 50 Lampen nebeneinander werden zur fantastischen Erscheinung und so halluzinatorisch wie ein Blick auf das nächtliche Los Angeles.

Im Wettbewerb mit Designern muss Pardo sowohl Modelle schaffen, als auch diese so staunenswert wie Haute Couture in Szene setzen. Im Wettbewerb mit Künstlern hingegen muss er das Feld des Skulpturalen erweitern. Einstweilen steht die Galerie mit ihrem guten Namen und einem Heer von Kommentatoren für den Kunstwert ein. Wenn alles klappt, landen die Werke in Museen für bildende, nicht für angewandte Kunst.

Doch mit dieser Unterscheidung steht und fällt Pardos Projekt. Er will die künstlerische Anschauung in den Alltag überführen. Diese Mission der historischen Avantgarden wurde seit den Achtzigerjahren zur Ästhetisierung des Alltags verdünnt: Auflösung der Kunst im Lifestyle.

Ohne die Grenze zum Alltag kann es aber Kunst als Ausnahmezustand nicht geben, obschon einer solchen Auffassung die Sammler, die mit Kunst zuhause leben, immer schon widersprochen haben. Jorge Pardo hält den Konflikt mit seinem Spagat offen, weil er ebenso wohnzimmerkompatibel wie museumsfit ist.

Galerie neugerriemschneider, Linienstraße 155; bis 25. Juni; Dienstag bis Sonnabend 11–18 Uhr.

Peter Herbstreuth

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