zum Hauptinhalt

Kultur: Kleiner Mann ganz groß

Daß John Major die Wahlen verlieren dürfte, liegt wohl auch am britischen Kino.Es feiert - ohne Pathos - die Welt der SchlechterverdienendenVON LENNART PAULIn diesem Jahr müssen die britischen Meinungsforscher keine Wahlumfragen starten.

Daß John Major die Wahlen verlieren dürfte, liegt wohl auch am britischen Kino.Es feiert - ohne Pathos - die Welt der SchlechterverdienendenVON LENNART PAULIn diesem Jahr müssen die britischen Meinungsforscher keine Wahlumfragen starten.Am 1.Mai wird wohl, datumsgerecht, die Labour Party das Unterhaus erobern.Zu dieser Erkenntnis sind keine Orakelbefragungen nötig.Auch brauchen wir keine Statistik, um zu sehen, in welche Richtung der Union Jack in Zukunft wehen wird.Ein Gang ins Kino genügt.Der neue britische Film erzählt uns die Geschichte vom Untergang der Konservativen und von der Wiedergeburt der Arbeiterpartei. Kein anderes europäisches Filmland war in den vergangenen Jahren so interessant wie Großbritannien.In die Mitte der achtziger Jahre, als das europäische Kino besonders darbte, platzte das junge britische Filmwunder.Die Titel: "Mona Lisa", "Brief an Breshnev", "Mein wunderbarer Waschsalon".Die Protagonisten: harmlose Gauner, Prostituierte, Arbeitslose, Matrosen, Einwanderer, schwule Kleinstunternehmer - Charaktere, die bei einer Leinwand-Tauglichkeitsprüfung in Hollywood sämtlichst durchgefallen wären.Aber nicht nur britische Filmfreunde wollten diese Menschen und ihre Schicksale kennenlernen.Weltweit strömten die Leute in die Kinos. Anders als in Deutschland hat der Arbeiterfilm in England gute Tradition.Seit Jahrzehnten macht das britische Kino den kleinen Mann groß.Vor allem Ken Loach steht für diese Kontinuität.In seinem Werk verhilft er den Schlechterverdienenden zu ihrem Kinorecht.Aber im Gegensatz zu anderen Regisseuren stilisiert er seine Figuren nicht.Sie steigen nicht von der Chauffeurstochter zur Unternehmersgattin auf.Sie folgen nicht dem ausgetrampelten Leinwand-Karriereweg vom Tellerwäscher zum Milliardär.Sie sind keine Kinohelden im herkömmlichen Sinn.Aber sie sind Helden des Alltags, weil sie ihn täglich neu bewältigen.Nach einigen dünneren Jahren ist der britische Lower-Class-Film nun heftig zurückgekehrt.Ob "Lügen und Geheimnisse", "Beautiful Thing" oder "Trainspotting", die schon in unseren Kinos zu sehen waren, ob "Brassed Off" und "Twin Town", die noch kommen werden: sie alle zeigen eine Lebenswelt, die in vielen Filmländern dem Kino verloren scheint und die dennoch den Alltag von einer täglich wachsenden Zahl Menschen einfängt. Cynthia zum Beispiel.In "Lügen und Geheimnisse" arbeitet sie in einer Kartonfabrik, und wenn jemand sie fragt, wie es auf der Arbeitsstelle läuft, schüttelt sie die Frage ab wie ein nasses Handtuch.Ihre Tochter Roxanne kehrt auf den Straßen Müll.Oder Ste und Jamie aus "Beautiful Thing".Die 16jährigen leben im Hochhausghetto Thamesmead, einem rundum betonierten Stück England.Stes Vater trinkt sich zu Tode.Jamies Mutter hingegen ist ungewöhnlich erfolgreich, sie bedient in einem Pub.Die Wohnungen sind wie enge Bienenwaben, in denen kein Konflikt den Nachbarn verborgen bleibt.In diesem Vorort verdient keiner mehr als 6000 Pfund im Jahr. Bei dieser neuen Sicht von unten sind die Arbeiter inzwischen von arbeitslosen Arbeitern an den Rand gedrängt."Brassed off" zeigt ein mittelenglisches Kohlebergwerk, dem die Schließung droht.Die Kumpels stehen vor dem Nichts.Das hört sich tragisch an.Ist es auch.Der britische Humor ist aber scharf genug, um jede Gefühlsduselei sofort abzuschneiden.Fast alle Filme über Arbeiter und Arbeitslose sind Komödien, in denen das Lachen über die von ganz unten Mitleid und Wut nur wachsen läßt. Nie aber geht es alleine um Arbeitslosigkeit und Armut.Diese Themen sind nur eine Geschichte, von der aus sich andere entwiêkeln können."Brassed off" erzählt von Musik, "Trainspotting" von Drogen, "Beautiful Thing" vom Coming out.Nie aber wird die soziale Frage zum Lokalkolorit, das die restlichen Konflikte der Filme in der Wirklichkeit verankern soll.Immer wirken die gezeigten Figuren echt.Sie könnten in der nächsten Eckkneipe stehen und sich eine Zigarette drehen. Die britischen Filmemacher wissen natürlich, daß der Proletarier mit Schichtdienst, der mit sechs Kindern im roten Backsteinhaus wohnt, eine aussterbende Spezies ist.Sie halten an ihm fest, weil sie ihn lieben.Und weil sie sich bis zuletzt um ihn kümmern wollen.Aber mehr und mehr fokussieren sie auch andere Gruppen.Die Regisseure haben erkannt, daß das "normale" Mittelmaß nicht mehr existiert, daß unsere Gesellschaft aus Außenseitern besteht.Arbeitslose und Ausländer, Schwule und Sozialhilfeempfänger, Lesben und Obdachlose werden zu den Symbolfiguren auseinanderbrechender Gesellschaftssysteme.Und alte Minderheiten sind inzwischen neue Minderheiten: Menschen mit Hauptschulabschluß in einer Umgebung von Abiturienten, Menschen ohne Auto in einer motorisierten Gemeinschaft, Verheiratete im Zeitalter der Singles, natürlich auch die Arbeiter in einer Dienstleistungsgesellschaft.Niemand kann mehr für sich in Anspruch nehmen, durchschnittlich zu sein. Der Antipode des britischen Films ist der deutsche.Ihm liegt nichts ferner als der Alltag.Hierzulande glaubt die Filmindustrie die Lüge von der Zwei-Drittel-Gesellschaft, vom sauberen Schnitt, der den Staat prägt.Natürlich wollen die Produzenten Filme für und über die Mehrheit entstehen sehen.Aber auch das untere Drittel haben sie im Kalkül.Wie in den dreißiger Jahren hoffen sie, daß die wohlstandsfeuchten Leinwandträume auch den Finanzschwachen 15 DM aus der Tasche locken. Der Prototyp des deutschen Films ist DIN-genormt: hier werden die Klischee-Yuppies der Achtziger seit Jahren wiederbelebt.Nie ist zu sehen, woher ihr Geld kommt.Immer ist zu sehen, wohin ihr Geld geht.Sie stecken es in die Maisonette-Wohnungen und die Designer-Kleider.Eine Wendeltreppe von der Dachterrasse hinab in die Dachgeschoßwohnung ersetzt die Freitreppen alter Revuefilme.Die mutigeren Drehbuchautoren deuten einen sozialen Hintergrund an.Sie verraten uns, daß der erfolgreiche Anwalt die erfolgreiche Künstlerin liebt, die heimlich mit dem erfolgreichen Arzt ... Die meisten dieser Filme laufen so gut geölt, daß jedes Gefühl des Zuschauers an ihnen abperlen muß.Noch jedoch geht die Rechnung auf: die Kinokasse füllt sich, wenn die Kunden ihr Leben nicht auf der Leinwand wiederfinden.Drehbuchautoren, Produzenten und Regisseure setzen Alltag mit Langeweile gleich.Sie kneifen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Konflikte aufzunehmen.So werden wir wohl keine streikenden Bauarbeiter im 35-Millimeter-Format erleben, keine randalierenden Stahlkocher, keine angeketteten Kohlearbeiter.Und wenn Wolfgang Becker in seinem Berlin-Film "Das Leben ist eine Baustelle" von Aids, Arbeitslosigkeit und Armut erzählt, bleibt das über viele Filmmeter wackelige Kulisse - auch wenn Becker sich Ken Loach zum Vorbild erkoren hat.Viel Spaß hat er am standardisierten Witzbuch-Proll, dumm, feist und ordinär.Der Humor britischer Filme, der die alltäglichen Menschen schlägt und gleichzeitig streichelt, liegt ihm fern. Aber zeichnen die britischen Filme ein realistisches Bild der letzten Arbeiter? Wie steht es um die falsche Romantik, die sich schnell einschleicht, wenn Malocher Eingang ins Kino finden? Ähneln die Stahlöfen anheimelnden Lagerfeuern, sehen die schmutzigen Kohlekumpels aus wie glückliche Kinder, die im Dreck gespielt haben? Ja und nein.Die Briten haben kein Problem mit der Idealisierung des Arbeiters.Und doch geraten die Gesten nicht zu groß, kommt kein Pathos hinein.Denn er ist immer nur eine Spur herzlicher, einen Tick ehrlicher als der Rest.Außerdem werden ihm viele kleine Mängel mitgegeben, die ihn oft noch liebenswerter machen.Schlimmstenfalls erklären sich grobe Fehler aus seiner bedrängten Situation. Sozial schwach zu sein heißt in britischen Filmen auch immer, Rebell zu sein.In "Brassed off" wird mit Musik gegen die Verhältnisse gekämpft, in "Twin Town" mit Sadismus, in "Trainspotting" mit totaler Verweigerung: "Sag ja zum Job.Sag ja zur Karriere.Sag ja zum pervers großen Fernseher.Sag ja zum elektrischen Dosenöffner.Sag ja zum Leben.Aber warum sollte ich das machen? Ich hab zum Jasagen nein gesagt." Diese Rebellion hat nichts mit einer Revolution gemein.Die "neuen Helden" (so lautet der deutsche Untertitel für "Trainspotting") ziehen sich trotz aller Störaktionen aus der Gesellschaft zurück.Was übrigbleibt, ist ein immer größeres Loch, das von Anarchie bis Zen-Buddhismus mit allem möglichen gefüllt werden kann. Einen Umschwung aber propagieren die Filme in jedem Fall: weg von den Tories, hin zu Labour."Der Wind dreht sich in unsere Richtung", sagt der Regisseur von "Brassed off", Mark Herman.Gemünzt ist das auf die Umfragen vor den britischen Wahlen.Doch sind die Träume von einer gerechteren Lohnverteilung und von Vollbeschäftigung noch Träume der Labour-Partei? Hat sich Labour nicht gerade jetzt zu einer konsequent marktwirtschaftlich denkenden, selbst für Unternehmer attraktiven Volkspartei gewandelt? So sieht es Mark Herman.Er bedauert es.Er unterstützt trotzdem die Partei des kleineren Übels, natürlich.In seinem Film aber verteidigt er das Bild des kameradschaftlichen, klassenbewußten, ausgebeuteten Arbeiters - des besseren Menschen.Und er läßt ihn Sätze sagen wie: "Was macht Gott? Er nimmt John Lennon.Er nimmt drei Kumpels von der Ainsley Mine.Und Margaret Thatcher lebt."

LENNART PAUL

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false