zum Hauptinhalt

Kloster, Glaube und Wellness: Die perfekte Weltpause

Der moderne Mensch ist die klosterfernste Existenzform überhaupt. Und doch zieht es ihn dorthin – quasi Mission nach innen. Ein Bogengang von Martin Luther zum Managerstress.

Am 2. Juli 1505 wandert ein Student der Rechtswissenschaft von Mansfeld nach Erfurt, zurück an seine Universität. Er ist der Stolz seines Vaters, über Generationen haben die Ludhers nichts als Bauern hervorgebracht, aber Hans Ludher darf sagen: Mein Sohn studiert, und zwar Jura! Mit einem Rechtsgelehrten in der Familie würde die Achtung, die man den Ludhers in Mansfeld entgegenbringt, ins Ungeheure steigen. Hans Ludher kann an diesem 2. Juli 1505 nicht ahnen, dass er den Jura-Studenten nie wiedersehen wird.

Bei Stotternheim kurz vor Erfurt erblickt der Sohn, „Martinus ludher ex mansfelt“, den Finger Gottes. Direkt neben ihn bohrt er sich gleißend in die Erde: der leibhaftige Zorn des Herrn, und er meint ihn, wen sonst? Das war präzise genug. „Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“, rief zu Tode erschrocken der Student.

Augenblicklich weiß er, dass er das falsche Fach studiert. Er kann Gott nicht verklagen wegen ungebührlicher Annäherung in Tateinheit mit seelischer Grausamkeit; es gibt keine Versicherungspolice gegen seine schlechte Laune. Kurz darauf hat der Erfurter Augustinerorden einen Novizen mehr.

Wer ins Kloster geht, begeht einen Akt freiwilliger Selbstinhaftierung; er verzichtet auf alle weltlichen Verdienste, Genüsse und Leidenschaften. Er erklärt seinem Körper: Und du hast jetzt gar nichts mehr zu sagen! Er schafft sich aus der Welt schon zu Lebzeiten. Und doch, vor 500 Jahren gab es keinen bevorzugteren, keinen sichereren Ort unter der Sonne als ein Kloster.

Die ersten Christen erlebten am 50. Tag nach dem Ostersonntag die Ausgießung des Heiligen Geistes: Der Name Pfingsten kommt vom altgriechischen pentekoste: der 50. Tag. Die Klöster nun sind nichts anderes als der steingewordene Vorsatz, jeden Tag zum 50. zu machen, sie sind die bestbewässerten Orte des Herrn, die Treibhäuser, die Gärten Gottes. Und die Wahrscheinlichkeit, dass der Teufel hier eindringt, durfte als vergleichsweise gering betrachtet werden.

Das Dilemma der Klöster, dieser Treibhäuser Gottes

Allerdings waren die Augustiner wie die Mönche anderswo auch den ganzen Tag damit beschäftigt, ihn draußen zu halten und die Aufmerksamkeit Gottes zu erregen. Sie absolvierten sieben Gebetszeiten täglich. Schon zwischen ein und zwei Uhr morgens, wenn großstädtische Gegenwartsexistenzen allmählich schlafen gehen, standen sie wieder auf, schlugen das erste Kreuz des Tages. Sie legten ihr Gewand an und das Skapulier darüber. Das Skapulier ist eine vorn und hinten fast bis zum Boden reichende Stoffbahn und symbolisiert das Joch Christi.

Beim zweiten Glockenläuten versammelten sich die Brüder in der Kirche und sprachen das erste Gebet des Tages. Die Matutin, das Nachtgebet für den aufgeweckten Mönch, dauerte eine Dreiviertelstunde. Dann ging er wieder schlafen, aber nicht lange. Denn schlafen heißt, sich einem verdächtig natürlich-kreatürlichen Behagen hinzugeben, und alles Natürliche ist die Eintrittspforte des Bösen. Da half nur: wachsam sein und beten!

Zu begreifen ist das Paradox, dass die Klöster zwar Treibhäuser des Herrn waren, dass andererseits das vorsätzliche Eingehen der Setzlinge als gärtnerischer Erfolg galt. Je toter der Leib, desto lebendiger, gottesunmittelbarer die Seele! In seinem ersten Klosterjahr bemerkte der Novize Martinus Ludher mit Erleichterung, dass der Teufel ganz still war. Aber das würde nicht so bleiben.

Namensgeber von Luthers Orden war der heilige Augustinus. Kurz vor seiner Taufe in Mailand schrieb der spätantike Philosoph im Winter des Jahres 386 einen Dialog, in dem er sich mit der Schutzheiligen aller Philosophen unterhielt, mit der Vernunft:

Die Vernunft: Was also willst du wissen?

Augustinus: All das, worum ich bete.

Die Vernunft: Fass es kurz zusammen.

Augustinus: Gott und die Seele zu erkennen, das ist mein Wunsch.

Die Vernunft: Weiter nichts?

Augustinus: Nein, sonst überhaupt nichts.

Kein Wort von der Welt, sie zählte nicht mehr. Der weltzugewandten Antike folgte das weltabgewandte Christentum; die Welt war nun vor allem eins: das, was den Menschen von seinem Gott trennte. Wer wie Luther ins Kloster ging, ging Gott, so gut er konnte, entgegen, denn er setzte die Erde noch auf Erden in größtmögliche Klammern, dick wie Klostermauern. Aber er tat noch mehr: Sich einem Kloster zu übergeben, heißt, demonstrativ auf den Gebrauch eines kleinen Wortes von drei Buchstaben zu verzichten, das den Heutigen das größte und unentrinnbarste überhaupt geworden ist: ICH.

Aller Selbstbehauptungsdrang, aller Eigenwille, von Stolz und Eitelkeit zu schweigen: abgelegt. Martin Luther hat eine der einfachsten und strapazierfähigsten Definitionen Gottes in Umlauf gebracht: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott!

Wo wäre das Leben einfacher und geregelter als in einem Kloster?

Insofern ist der moderne Mensch, dieser Ich-Sager vor dem Herrn, die klosterfernste Existenzform überhaupt. Und statt die Welt abzulehnen, sind wir in höchstem Maß weltfromm geworden. Es wäre zu leichtfertig, dieses Leben zu verneinen, denn vielleicht gibt es gar keine anderes.

Ein Mensch von heute wäre demnach der Anti-Mönch schlechthin, und doch befällt ihn mitunter die Sehnsucht nach einer Zeit, da das Leben noch einfach und geregelt war und die Welt ein Dach hatte. Und wo wäre es je einfacher, geregelter und überdachter gewesen als im Kloster? Zudem: Auch das eigene Ich kann ein Gefängnis sein, wir müssen es immer mitnehmen, kommen da niemals raus. Ja, es gibt sogar zeitgenössische Stimmen, die an einen „universalen Archetypus des Mönchs“ glauben. Der spanische Priester Raimon Panikkar war der Überzeugung, dass wir alle den Mönch, die Nonne in uns tragen.

Und da ist, ungefähr seit der Jahrtausendwende, eine Tendenz, die ihm recht zu geben scheint. Immer mehr Menschen gehen ins Kloster, bloß eben nicht für immer, sondern auf Zeit. Sie machen Klosterurlaub. Wenn in Frankfurt Messe ist, öffnet der Deutsche Orden seine Zellen für gestresste Manager. Überhaupt ist diese Berufsgruppe sehr empfänglich für Rückzugsorte wie diese. Und die Dominikanerinnen von Arenberg auf der rechten Rheinseite von Koblenz offerieren längst ein beherztes Angebot: „Beten und baden“. Sie haben aus ihrem Kloster einen „Wohlfühlgarten Gottes“ gemacht. Immer mehr Klöster öffnen sich für Besuch aus der nur allzu weltlichen Welt, schließlich stehen immer mehr Zellen leer. Menschen von heute treffen mit Vorliebe provisorische Entscheidungen; die Entscheidung, Mönch oder Nonne zu werden, ist das Gegenteil. Und wer dürfte auf das Verständnis seiner Umwelt rechnen?

Luther verlegte das klösterliche Privileg, Treibhaus Gottes zu sein, in die Brust jedes Einzelnen

Auch das Kloster Heiligengrabe in Brandenburg bietet Erholungssuchenden Raum.
Auch das Kloster Heiligengrabe in Brandenburg bietet Erholungssuchenden Raum.

© dpa

Am Anfang hatte die Nachhut des europäischen Mönchtums noch Angst vor den lauten Rüpeln aus den lauten großen Städten, aber die bewiesen beachtliche Begabung fürs Leisesein. Längst gibt es auch „Klosterurlaubsführer“ wie den von Hanspeter Oschwald. Der einstige dpa-Journalist führt die neue Anziehungskraft des Klosters für Teilzeitmönche und -nonnen auf die „Suche nach Spiritualität“ zurück. Das Wort „Spiritualität“ zeugt von der spezifisch metaphysischen Sprachlosigkeit der meisten Zeitgenossen; vager geht es nicht.

Die Dominikanerinnen von Arenberg sprechen von ihrem Kloster als „heilendem Ort“. Vielleicht ist das ein entscheidender Hinweis. Wagen wir eine These: Das Kloster ist das, was vor der Anstalt kommt. Es ist die rigorose Weltpause. Ist es nicht besser, ins Kloster zu gehen als gleich in die Psychiatrie? Wo ist noch Stille? Hier! Wo muss ich eine Zeit lang nicht mehr ich sein? Hier!

Rein patentrechtlich gesehen sind wir ein reines Naturprodukt, das heißt zuerst und zuletzt, wir sind nicht unbedingt gemacht für das Leben, das wir führen: ein Leben ohne Pause. Unsere Feiertage sind Relikte, die aus einer Zeit stammen, deren Voraussetzungen wir nicht mehr teilen. Eigentlich sind sie Störfälle, gewaltsame Unterbrechungen der unversiegbaren Arbeits-, Material-, und Informationsströme, die unsere Welt ausmachen. Dass deutsche Wirtschaftsverbände 2005 forderten, Pfingsten abzuschaffen, war so gesehen nicht erstaunlich.

Im Mittelalter dagegen gab es weit über hundert Feiertage, an denen es streng verboten war zu arbeiten. Was für paradiesische Zeiten, mag man denken, vorausgesetzt, dass ein Moment der höheren Untätigkeit zu jedem Paradies gehört.

Früher habe es mehr als 100 Feiertage

Die über 100 Feiertage waren weniger Symptom einer konstitutionellen Faulheit als vielmehr der Überzeugung, dass das Diesseits nur eine missliche Durchgangsstation ins Jenseits ist, die eigentliche Heimat der Seele. Haben wir seither mehr verloren als die meisten Gewissheiten und über 100 Feiertage? Das kommt auf die Sichtweise an. Der Augustinermönch Martin Luther kam auch im Kloster nicht zur Ruhe. Ausgerechnet nach dem Lesen seiner ersten Messe geriet er erneut mit dem Vater in Streit. Warum Hans Ludher sich dem Weg des Sohnes so widersetzt habe, wollte dieser wissen, schließlich sei er direkt von oben, von einer Gewitterwolke berufen worden. Und der Vater erwiderte: Gott gebe, dass es kein Blendwerk des Satans war!

Der junge Mönch erstarrte: Diese Möglichkeit war natürlich nicht auszuschließen. Er fastete, fror, wachte und beichtete um sein Leben – und fand doch keine Ruhe. Der Vorteil der mittelalterlichen Gewissheit, eine unsterbliche Seele zu besitzen, war zugleich ein großer Nachteil: Denn ein fortwährendes Schlachtfeld von Gott und Teufel zu sein, ist kein psychisch bekömmlicher Modus der Existenz, und der junge Hysteriker hätte sich gewiss zu Tode gemartert, hätte sein Ordensgeneral den Bruder am Rande des Nervenzusammenbruchs nicht als Bibelgelehrten nach Wittenberg geschickt, wo er einen ganz neuen, extramonastischen Heilsweg entdeckte.

Der frühere Augustinermönch Martin Luther, der das Ordenskleid noch lange nach seiner Exkommunizierung nicht ablegte, brachte nicht nur die Kirche ins Wanken, sondern vor allem die Klöster. Sie verloren ihre Stellung als heilstechnische Avantgarde. Luther verlegte das klösterliche Privileg, Treibhaus Gottes zu sein, in die Brust jedes Einzelnen. Einem veritablen Hysteriker vor dem Herrn verdanken wir demnach die grundsätzliche Weichenstellung, die geradewegs bis zu uns führt: die Selbstverantwortung des Individuums.

Die Klöster aber, die eigentlichen Kulturträger des Mittelalters, gerieten in den Schatten der Geschichte, aus dem sie jetzt auf bizarre Weise wieder auftauchen: als Versprechen einer großen Weltpause, so kurz sie auch sein mag.

Klöster sind transportabel geworden

Aber Klöster müssen nicht immer aus Stein sein. Menschen, die die alten Pilgerwege wieder gehen, bilden Klöster unterwegs. Hape Kerkelings Jakobsweg-Report hieß nicht zufällig: „Ich bin dann mal weg.“ Will heißen: aus der Welt, in mobiler Klausur.

Transitorische Klöster können überall entstehen, sogar mitten in Berlin: Pfingsten 2013. Unter den Linden, im sonst so jagenden Herzen der Stadt, kein Laut. Aber Tausende von Menschen waren da, liegend, sitzend, stehend auf dieser Pulsader einer Megalopolis und stumm. Dann begannen gezupfte Geigen, kaum hörbar. Es war der langsame Satz aus Beethovens 7. Sinfonie. Daniel Barenboim schien mit seiner Staatskapelle herausfinden zu wollen, bis zu welchem Grad man verstummen kann, um nur umso hörbarer zu werden.

Es war eine große Kommunion, ein vollkommenes Aus-der-Welt-Sein. Plötzlich hielten sich die Menschen dort auf, wo sie nur selten anzutreffen sind: zugleich in einem gemeinsamen überindividuellen Raum und ganz bei sich. Jede Musik kann dieses Wunder vollbringen, Rockkonzerte können das auch. Und dann erklärte Barenboim, dieser Philosoph unter den Kapellmeistern, dass es der Musik allein gelingt, Leben und Tod zu balancieren: Klang ist das Leben, Stille der Tod, Musik ist der Übergang zwischen beiden.

Demzufolge hätte die Musik im Seelenhaushalt des modernen Menschen das Amt Gottes übernommen? Vieles spricht dafür. „Die Musik ist die endgültige Emanation des Universums, wie Gott die äußerste Emanation der Musik ist“, vermutete der moderne Mystiker E. M. Cioran. Und ja, die Klöster sind transportabel geworden: Schon mit einem Kopfhörer auf den Ohren gehören wir selbst in der überfülltesten S-Bahn nicht mehr recht dieser Welt an, befinden uns vielmehr in der je eigenen Klausur auf Zeit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false