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Kultur: Knabenfuror

Engel mit Abgründen: James Blake im Berghain

Von Jörg Wunder

Der Brite James Blake, dessen Debütalbum zu den Popsensationen dieses Frühjahrs gehört, wirkt auf Fotos oft wie ein menschenscheuer Primaner, eine Art Gymnasiastenausgabe von Justin Bieber. Doch im seit Wochen ausverkauften Berghain betritt ein kantiger junger Mann von Anfang 20 die Bühne, dessen Gesicht zwar immer noch eine knabenhafte Klavierschülerunschuld spiegelt, die im reizvollen Kontrast zu den Abgründen seiner Musik steht. Umständlich faltet er seinen hoch aufgeschossenen Körper hinter die beiden Keyboardtastaturen und eröffnet das elegische „Unluck“ mit schwermütigen Orgelakkorden, auf die sich sein glockenklarer, mit dem Autotune-Effekt mehrstimmig aufgefächerter Gesang senkt.

Nach einer Weile steigen seine beiden Mitmusiker ein: Drummer Ben Assiter beklopft mit gelassener Präzision ein elektronisches Schlagzeugset, Rob McAndrews ruft mit einem Sampler katakombentiefe Bassfrequenzen ab oder wirft minimalistische Gitarrenschraffuren in den Soundwirbel. Die das Publikum in andächtiges Schweigen bannende Faszination dieser Songs liegt in den Gegensätzen, die hier aufeinanderprallen: Melodien von so simpler wie überirdischer Schönheit, die klingen, als würden sie schon ewig zum musikalischen Kanon gehören, treffen auf Dekonstruktionsfuror. Genauer, auf die wobbelnden Killerbässe und zerstückelten Rhythmuscluster des britischen Dubstep, der wichtigsten zeitgenössischen Clubmusik, deren Sound gerade den Mainstream erobert.

Zusammengehalten wird die Tektonik der Stücke von Blakes engelhafter Stimme, die man schwer mit seiner unscheinbaren Person auf einen Nenner bringt: Während etwa bei Antony Hegarty, dem stilistisch vielleicht ähnlichsten Sänger, die Wirkung seines Vortrags ganz klar mit seiner exotischen Vita als tragischer Pop-Außenseiter korrespondiert, erzeugt bei James Blake die Aura oberflächlicher Normalität eine Verunsicherung beim Publikum: Wie kann dieser Durchschnittstyp, der einem in keinem Supermarkt auffallen würde, so singen?

Umso heftiger trifft einen die emotionale Wucht, mit der sich in „I Never Learnt To Share“ aus der mantrahaften, in einen vielstimmigen Choral mündenden Wiederholung der Zeilen „My brother and my sister don’t speak to me / but I don’t blame them“ ein existenzielles Verlorensein herausschält. Und egal, ob das bodenlose „I’m falling, falling, falling, falling“ von „The Wilhelm Scream“ nur, wie Diedrich Diederichsen in der „Süddeutschen Zeitung“ zu bedenken gab, das albträumende Stürzen von „Little Nemo in Slumberland“ meint oder nicht doch eine viel kreatürlichere Erschütterung – entziehen kann man sich diesem hypnotischen Selbstbespiegelungspop kaum.

Das gilt erst recht, weil die Stücke live, wenn sie aus der Formstrenge der Studioversionen ausbrechen, hinzugewinnen. So werden die hübsch mäandernden Dub-Improvisationen beim Feist-Cover „Limit To Your Love“ ebenso bejubelt wie jeder Anflug von erlösenden Technobeats. Hier und da wagt man in der Enge sogar ein paar Tanzschritte. Immerhin befindet man sich im Zentraltempel nächtlicher Entgrenzung. Jörg Wunder

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