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Schreckliche Stille. Ole Lagerpusch als unglücklicher Poet Lenz. ]Foto: Braun/drama-berlin.de/ ]

© Braun/drama-berlin.de

Kultur: Knistern im Kopfraum

Schmerz und Drang: Büchners „Lenz“ in der Box des Deutschen Theaters.

Ein Mann im Kampf mit den Gewalten. Wind, Schnee, dramatische Landschaft und „diese schreckliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt“. Der Mann verliert den Kampf – natürlich – und bleibt, als die Gewalten weichen, als leeres, ausgewaschenes Gefäß zurück, „starrte ruhig hinaus ... keine Angst mehr, kein Verlangen ...“. Bei Büchner heißt es im letzten Satz der Erzählung „Lenz“: „So lebte er dahin.“ Bei der Regisseurin Lilja Rupprecht, die „Lenz“ in der Box des Deutschen Theaters zeigt, geht Lenz sogar ins Wasser. Auf einer Holzwand, die auch als Leinwand dient, sieht man Ole Lagerpusch sich am Ufer entkleiden und in das schwarze Wasser eines Sees waten und langsam versinken.

Die Videoeinspielungen hin und wieder, ab und an ein psychotisches Knistern oder Knallen aus den Boxen und die Sperrholzzelle mit den gerissenen Wänden (nichts anderes als der Lenz’sche dünnwandige Kopfraum) – das ist der einzige Luxus, den sich dieser Abend leistet: Ansonsten ist er konsequent und einfach und von beißender Klarheit wie Winterluft.

Ole Lagerpusch ist Lenz, eine Figur, die Büchner dem Schriftsteller Jacob Michael Reinhold Lenz nachgedichtet hat, der sich 1778, psychisch krank, in die Obhut des Pädagogen Friedrich Oberlin begab. Auch Goethe schrieb über Lenz, aber, wie Büchner fand, viel zu distanziert, während er das Leiden, Sehnen und Hoffen des „unglücklichen Poeten“ in all seinen glühenden Verzweiflungsfasern zu ergreifen sucht.

Ole Lagerpusch spielt diesen irrlichternden Schmerzensmann, hin- und hergestoßen zwischen religiösen Heilsfantasien, Apathie und Schuldgefühlen, mit etwas, was Lenz völlig abgeht: mit Maß. Lagerpusch starrt ins Nichts, grimassiert mitunter wie der Komiker Jim Carrey oder schlurft, vom Geschrei der Gestalten im Zeitraffer gealtert, wie ein alter Mann durch seine Holzhütte, doch er zügelt sich dabei, hält immer etwas zurück. Lagerpusch zeigt das innere Wüten, ohne selbst wüten zu müssen, und bewahrt der ausgelieferten Figur etwas unergründlich Rätselhaftes. An seiner Seite Harald Baumgartner, der nicht nur Oberlin, sondern auch alle anderen Figuren in wechselnden Kostümen mehr an- als ausspielt: mal mitfühlende Vaterfigur, mal kühl beobachtender Wissenschaftler, mal Erzähler, der den vorwärtshetzenden Sätzen Büchners kaum hinterherkommt.

Keine Heute-Bezüge, keine raffinierten Textimplantate. Ole Lagerpusch, Harald Baumgartner und ab und an ein psychotisches Knistern aus den Boxen. Mehr braucht es gar nicht, um zeitlose Ausweglosigkeit zu vergegenwärtigen.

Wieder am 15. Dezember.

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