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Sommerlust. Der Autor beim Rudern auf dem See im Beihai-Park nordwestlich der Verbotenen Stadt.

© Bei Dao / Hanser Verlag

Kohl und Kulturrevolution: Das Glück in Zeiten des Verrats

Politik der Sinne: Der berühmte Dichter Bei Dao erinnert sich an seine Pekinger Jugend.

Von Gregor Dotzauer

Städte sind eigentümliche Gebilde. Schwer zu fassen in ihrer Gegenwart und unberechenbar in den Ablagerungen, die sie in ihren Bewohnern hinterlassen. An der Grenze von äußerer und innerer Welt bilden sie ein Konglomerat von Wegen und Plätzen, Erlebnissen und Sinneseindrücken, deren Stränge und Schichten allenfalls die Erinnerung entwirrt. So gründlich überschrieben, ja ausgelöscht das Peking von Bei Daos Kindheit und Jugend ist, verweigert es sich aber auch im Nachhinein jedem Panoramablick. Die farbige Fülle, in der es der 1949, zwei Monate vor der Gründung der Volksrepublik China geborene Lyriker und Essayist, in „Das Stadttor geht auf“ noch einmal erstehen lässt, speist sich aus geradezu beschwörerisch aufgerufenen Einzelheiten.

[Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser Verlag, München 2021. 333 Seiten, 25 €.]

Trotz dörflicher Strukturen war Peking mit über vier Millionen Einwohnern schon damals eine große Stadt, auch wenn sie wie die heutige 20-Millionen-Megacity noch nicht in den Himmel und über die inneren Ringstraßen hinaus gewachsen war. Und: Es war eine Stadt des Hungers und der Armut. Als Bei Dao 2001 nach 13, im Exil zwischen Europa und den USA verbrachten Jahren, zum ersten Mal zurückkehrte, um seinen sterbenden Vater zu besuchen, erkannte er die Stadt, die er verlassen hatte, kaum wieder.

Exorzismus der Gegenwart

Dennoch hat Bei Daos autobiografische Prosa weniger Beschönigendes oder Verklärendes als Exorzistisches. Er beschloss, „das geschriebene Wort einzusetzen, um eine andere Stadt, um mein Peking wiederaufzubauen“. In der Stadt, die einmal die seine war, „sollte die Zeit rückwärtslaufen“, in der Hoffnung, dass sich im „Irrgarten des Gedächtnisses“ mit jedem Tunnel ein weiterer Tunnel öffne.

Schon die ersten drei Kapitel, überschrieben mit „Licht und Schatten“, „Gerüche“ und „Klänge“ tun dies mit einem dichterischen Sensorium, das man nicht als bloßes Beiwerk der politischen Umbrüche abtun sollte, von denen umgeben er aufwuchs. Bei Dao löst sie als sinnliche Konzentrate aus einem Geschehen heraus, das der historischen Vogelperspektive in der Regel unzugänglich ist.

Die Lampions, mit denen die Fahrradfahrer unterwegs waren, bevor dynamobetriebene Leuchten aufkamen. Die Sanftheit der einsamen Glühbirnen an den Küchentischen und das Aggressive des späteren Neonlichts. Der faulige Geruch von getrocknetem Kohl, mit dem die Familien über den Winter zu kommen versuchten. Das Trappeln der Esel, die Nacht für Nacht zum Zoo getrieben werden, um den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen zu werden.

Bei Dao erzählt aus einer subjektiven, stark fragmentierten, mitunter sprunghaften Sicht, in der auch das bittere und blutige Jahrzehnt der Kulturrevolution nach 1966, in der Volksrepublik ohnehin stark tabuisiert, ganz aus den alltäglichen Rangeleien, Intrigen und Demütigungen evoziert wird, an denen er sich als junger Rotgardist denunziatorisch beteiligte. Wer die größeren Zusammenhänge verstehen will, muss sich anderweitig informieren. Dennoch hätten fürs erste auch hier ein Glossar oder Anmerkungen wertvolle Dienste geleistet.

Integrität und Rebellion

Seine Zurückhaltung, was historische Urteile betrifft. mag einen Grund darin haben, dass er, mittlerweile in Hongkong beheimatet und in Peking geduldet, gegenüber den Behörden stillhalten muss: Das chinesische Original dieses Buches ist aus gutem Grund in der Hongkonger Oxford University Press erschienen, bevor es Jeffrey Yang 2017 zunächst ins Englische übersetzte. Entscheidender ist, dass er alles Politische im engeren Sinn am liebsten vom Literarischen fernhalten würde. Er verfügt eher über einen Integritätskompass, an den er sich zumal in jüngeren Jahren unmissverständlich rebellisch hielt.

Die Demonstrierenden, die sich 1989 nach dem Tod des kommunistischen Reformers Hu Yaobang zu blutig niedergeschlagenen Massenprotesten auf dem Tiananmen-Platz versammelten, fanden in seinem Gedicht „Die Antwort“ jedenfalls willkommene Stichworte: „Gemeinheit, so lautet der Passierschein der Gemeinen, / Edelmut, so lautet die Grabinschrift der Edelmütigen“.

In wenigen Zeilen steigert es sich zu einer Verleugnung alles Bestehenden: „Ich sage dir, Welt / Ich – glaube – nicht!“ Bei Dao hatte das Gedicht 1976 nach dem sogenannten Tiananmen-Zwischenfall geschrieben, bei dem auf dem Platz des Himmlischen Friedens Tausende um den verstorbenen Premierminister Zhou Enlai trauerten: Mit ihm verband sich die Hoffnung auf eine liberalere Politik als diejenige des ein halbes Jahr später gestorbenen Mao Zedong.

Bei Dao staunte nicht schlecht, als dieses für seine Verhältnisse selten deutliche Gedicht 13 Jahre später zu neuen Ehren gelangte, just in den Monaten, als er sich fernab von Peking mit einem dreimonatigen DAAD-Stipendium in Berlin aufhielt. Von alledem ist so wenig die Rede wie von seinem seinerzeitigen Engagement für den Dissidenten Wei Jingsheng – oder auch von „Jintian“ (Heute), der ersten nichtoffiziellen Literaturzeitschrift der Volksrepublik, die er im Dezember 1978 mitgründete. Zwei Jahre später wurde sie zwangseingestellt.

Aufwachsen am Hinteren See

„Das Stadttor geht auf“ blättert, mit kursorischen Ausflügen in die Jahre der Rückkehr nach Hongkong und Peking, im Wesentlichen die Geschichte des kleinen Zhao Zhenkai auf, bevor ihm Freunde den Künstlernamen Bei Dao (Nördliche Insel) gaben. Man lernt den Spross einer privilegierten Familie in einer Zeit des brutalen Mangels kennen. Er wächst vom achten Lebensjahr an in der Sanbulao-Gasse auf, einem heute noch bestehenden Hutong unweit des Houhai, des Hinteren Sees im Bezirk Xicheng, und kann die angesehensten Schulen der Stadt besuchen.

Eindringlich widmet sich Bei Dao seinen beiden Geschwistern, Freunden und Verwandten. Er schildert, wie die in der Dachkammer verschlossenen Bücher seines Vaters zu seiner literarischen (und in der Form eines Handbuchs der Frauenheilkunde erotischen) Initiation führten, ehe sämtliche Schätze den Flammen der Kulturrevolution geopfert werden mussten.

Man erfährt von seinen ersten dichterischen Versuchen. Und man nimmt teil am Schicksal von Tante Qian, der analphabetischen Haushälterin, für die er eine Weile das Briefeschreiben übernahm. Als Beweis kapitalistischer Lebensweise darf sie nicht bleiben, scheitert mit einem Eheversuch und gerät in tiefes Elend: 1982 besucht sie Bei Dao hinter einem trostlosen Bretterverschlag in ihrer Heimatstadt Yangzhou.

Auskünfte über sein dichterisches Selbstverständnis bleiben ausgespart: Sie finden sich zum Teil schon in dem Essayband „Gottes chinesischer Sohn“. Unabhängig davon scheint er von seinem Weg zum bekanntesten, sogar für den Nobelpreis nominierten Kopf der sogenannten Nebeldichtung nicht mehr viel wissen zu wollen.

Verweigerung gegenüber offiziellen Sprecherwartungen

Die „menglong shi“, wie sie Ai Weiweis Vater, der Dichter Ai Qing, noch verächtlich nannte, bevor die nachfolgende Generation den Begriff positiv besetzte, war eine heterogene Bewegung, die allenfalls ein Hang zum Hermetismus vereinte, der sich offiziellen Sprecherwartungen bewusst widersetzte. Fünf auf Deutsch vorliegende, wie das „Stadttor“ von Wolfgang Kubin übersetzte Bände, zuletzt „Das Buch der Niederlage“, zeugen von der ureigenen Schönheit und Gedanklichkeit dieser Lyrik.

Kubins nicht zum ersten Mal geführte Nachwortklage, schon die dialektalen Einsprengsel des „Stadttors“ hätten ihn an seine Grenzen gebracht, vermittelt indes einen Eindruck davon, um wieviel rätselhafter die Gedichte sind: Zu ihrer erratischen Assoziationslust kommt eine grammatikalische Vieldeutigkeit, mit der das Chinesische als nichtflektierende Sprache besonders elegant spielen kann.

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Seinen literarischen Reiz hat „Das Stadttor geht auf“ als Peking-Elegie. Seinen mentalitätsgeschichtlichen Wert hat es als Dokument einer verschwindenden Generation, deren Traumata doch noch das wirtschaftlich entfesselten China von heute prägen. Es ist nicht von ungefähr ein Vaterbuch, in dem Bei Dao sich eingestehen muss, dass er, der Ketzer, auch einen in seiner Familie und Kultur eingewurzelten Tyrannen in sich trägt.

Der während der Hundert-Blumen-Bewegung zum Rechtsabweichler abgestempelte und verbannte Vater ist auch der zentrale Bezugspunkt von Ai Weiweis gerade erschienenen Erinnerungen „1000 Jahre Freud und Leid“. Es hat ihn nur zu einem anderen gemacht als Xi Jinping, dessen Vater Xi Zhongxun auch in die Mühlen der Kulturrevolution geriet. Die Söhne haben eine Weile gebraucht, um sich dieses Erbes bewusst zu werden. Es ist nun an den Enkeln, etwas daraus zu machen.

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