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Spurensucher. Schriftsteller und Literaturkritiker Kolja Mensing.

© Alexander Janetzko

Kolja Mensing recherchiert ein jüdisches Schicksal: Wie arbeitet Erinnerung?

Schriftsteller und Tagesspiegel-Autor Kolja Mensing erzählt in „Fels“ einfühlsam und präzise vom Schicksal eines jüdischen Viehhändlers im Zweiten Weltkrieg.

Eine Großmutter liegt im Krankenhaus. Um sie abzulenken, bittet ihr Enkel sie, ihm noch einmal die Geschichte von ihrer heimlichen Verlobung mitten im Krieg zu erzählen. Mit all den schon so häufig gehörten romantischen Ingredienzien: von der von einem Wehrmachtssoldaten zufällig gefundenen Feldpostkarte einer damals Dreizehnjährigen in einem Lazarett drei Jahre zuvor bis zu dem aus Zahnputzbechern geschlürften Eierlikör während einer sternenklaren Nacht an einem See am Heiligabend des Jahres 1943.

Nur dass die Großmutter diesmal einen Namen erwähnt, den ihr Enkel Kolja Mensing noch nie zuvor gehört hat: Albert Fels. Ein jüdischer Viehhändler und früherer Knecht ihres Vaters, erinnert sich die Großmutter, gutmütig zwar, aber oft betrunken und verspottet von den Kindern im Dorf wegen seines monströsen Leistenbruchs. Bei Kriegsausbruch im September 1939 sei „Onkel Fels“, wie er genannt wurde, in eine Heil- und Pflegeanstalt gesteckt worden und nie mehr zurückgekehrt. „Man weiß ja, was damals passiert ist“, fügt die Großmutter an, und der Enkel kann sich denken, was sie meint: Der betagte Trinker dürfte entweder Opfer des gerade anlaufenden NS-Euthanasieprogramms geworden sein, oder er wurde in einem der Vernichtungslager ermordet.

Wie arbeitet Erinnerung? Diese Frage steht im Zentrum von Kolja Mensings Buch „Fels“. Der 170-Seiten-Text des Autors und Literaturkritikers ist der ebenso eindrucksvolle wie bedrückende Bericht über den Versuch, Leben und Tod des in Vergessenheit geratenen „Onkel Fels“ zu rekonstruieren. Ein jahrelanges „Puzzlespiel“, wie der Literaturredakteur des Radiosenders Deutschlandfunk Kultur schreibt, mit so einigen Sackgassen, glücklichen Archivfunden und vielen überraschenden Wendungen.

Die Großmutter macht aus dem Krieg eine Lebensgeschichte

Seit Kindheitstagen steht Kolja Mensing seiner Großmutter nahe; in ihrem Haus, dem Haus ihrer Eltern, ist die Vergangenheit noch immer lebendig, zum Beispiel in Gestalt von über Generationen weitergereichten Spielsachen wie dem Schaukelpferd oder dem Tretroller, mit denen nun auch noch die Kinder von Mensing spielen. Bei dieser Suche ist die inzwischen weit über Achtzigjährige jedoch nur begrenzt von Hilfe.

Denn auch wenn sich die Großmutter bereitwillig mit dem Enkel „in kleinen schleifenartigen Bewegungen“, mit dem Fotoalbum in der Hand oder am Telefon, stückweise durch ihre Lebensgeschichte arbeitet, so muss sich Kolja Mensing doch einmal eingestehen: „Meine Großmutter hatte aus dem Krieg eine Liebesgeschichte gemacht.“ Woran sie sich sonst noch erinnert, sind eher amüsante Episoden. Zum Beispiel die von ihrem Vater, wie dieser in den 1930er Jahren in selbstgeschneiderter Uniform und mit abgesägtem Besenstiel in der Hand auf dem Kirchplatz zu Wehrübungen der SA antrat.

Hinweise liefert ein Karton mit Familienerinnerungen

Erst sehr viel später begreift der Autor, dass sich in dem Spott der Großmutter wohl „ein Rest Überheblichkeit“ erhalten hatte: „Meine Großmutter war nämlich die einzige in der Familie, die wirklich etwas auf die politischen Überzeugungen gehalten hatte“, die in den dreißiger Jahren auch in dieses Dorf irgendwo bei Oldenburg gekommen waren. Mehr noch, nach dem Tod der Großmutter entdeckt die Familie im Schrank eine Art Geheimversteck, in dem die ehemalige BdM-Mädelscharführerin sorgsam ein Buch aufbewahrte, von dem sie ihrer Familie später stets erzählt hatte, sie habe es in den letzten Kriegstagen verbrannt: eine Geschenkausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“.

Mehr Hinweise und Antworten liefert dagegen ein Karton mit Familienerinnerungen aus Südafrika. Absenderin ist die Enkelin von Fels; die Sendung der inzwischen ebenfalls über achtzigjährigen Frau hilft Mensing, eine tragische Lebensgeschichte zu rekonstruieren, aber auch ein „harmonisches Nebeneinander von Juden und ihren nichtjüdischen Nachbarn“ auf dem Land Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, das sich nicht zuletzt in einem erfolgreichen gemeinsamen Wirtschaften manifestierte.

Das Buch ist lesenswert und lehrreich

Denn Albert Fels war, wie sich herausstellt, nicht immer nur der Knecht in diesem Schlachtbetrieb gewesen, sondern um 1900 erst der Chef, dann der Kompagnon. Wer nun aber vermutet, die Geschichte von Fels laufe dann wohl auf einen Fall von „Arisierung“ hinaus, liegt falsch: So einfach und quasi schubladengerecht sind die Antworten, die Kolja Mensing bei seiner Recherche findet, nicht. Auch wurde Albert Fels durchaus nicht Opfer des NS-Euthanasieprogramm, sondern starb in Wahrheit ein ganzes Jahr früher, als von der Großmutter erinnert, und sein Obduktionsbericht, den Mensing findet, macht aus dem Stück Familiengeschichte unversehens einen Kriminalfall.

Erzählungen brauchen Leerstellen, schreibt Kolja Mensing einmal, und sein Buch „Fels“ liefert solche gleich im wörtlichen Sinn: Es finden sich zwischen den über vierzig kurzen Kapiteln doch viele weiße Seiten, die die emotionale Wirkung dieses Textes noch verstärken. Dabei erzählt der Autor wohltuend zurückhaltend, ebenso präzise wie einfühlsam, frei von Spekulation und nie denunzierend. Das alles macht sein sehr sorgfältig recherchiertes kleines Buch, das zeigt, wie sich Familiengeschichten mit einem Mal und nicht zuletzt mithilfe der verstreichenden Zeit verändern können, zu einem veritablen Stück Literatur – und am Ende nicht nur lesenswerter als so manchen dickleibigen Roman, sondern überdies lehrreicher als etliche Geschichtswerke.

Kolja Mensing: Fels. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 176 Seiten, 16 €.

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