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Wir leben in einer Gesellschaft des Umzugs.

© Christin Klose/dpa

Kolumne: Ein Stück vom Leben: Warum haben wir kein Zuhause mehr?

Wohnst du noch oder packst du schon? Zwischen Umzugskisten und neuen Jobs machen wir moderne Nomaden uns permanent obdachlos. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Ausgeräumte Wohnungen werden von einer Aura tiefer Melancholie ausgefüllt. Was vor wenigen Tagen noch ein Zuhause war, ist jäh zur Spielwiese für Staubflusen geworden. Und wo das eigene Seelenleben in den vier Wänden einst einen Resonanzraum fand, müssen nun die Spuren der Innerlichkeit wie Tapetenreste mühsam von der Wand gekratzt werden.

Achtlos verschwinden jene Dinge in den Kartons, die doch unser ganzes Dasein repräsentieren. Als stürbe man einen kleinen Tod. Sicherlich, sie tauchen andernorts wieder auf – im Gegensatz zu den an die vertraute Umgebung angepassten Augenblicken des Alltags und den liebgewonnenen Nachbarn.

Knapp fünf Millionen Haushalte wechseln jährlich in Deutschland ihren Wohnort. Das sind achteinhalb Millionen Menschen. Mehr als jeder Zehnte. Es ist auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Erfordernis, stets flexibel befristete Arbeitsverhältnisse zu jonglieren. Wie brutal diese Trennung ist, haben Wissenschaftler längst nachweisen können: Mit jedem Umzug im Kindesalter steigt das Risiko, als Erwachsener psychisch zu erkranken, gewalttätig oder drogenabhängig zu werden.

Der Mensch ist nicht mehr bei sich zu Hause

In der Eiszeit mit ihren Jägern und Sammlern war das Nomadentum den Menschen als Naturzwang auferlegt. Erst als sie sesshaft wurden, entstand das, was wir heute Kultur nennen. Doch so, wie sich das gesellschaftliche Klima tendenziell wieder der Eiszeit annähert, scheint auch der überwunden geglaubte Naturzwang als menschengemachte Adaption wieder auf. Mit jener Umtriebigkeit, die einst die Hungernden und Frierenden verspürt haben müssen, wenn sie ihre Feuerstätte löschten und den Tierherden hinterherzogen, wird heute das Lebensumfeld abgestreift, um wieder zu neuen Zielen aufzubrechen.

Längst ist für viele der Zustand der Vor- und Nachbereitung eines Umzugs, das Leben aus Koffern und Kisten, zum Alltag geworden. Ein Wohnen im Wartezimmer. Mit einem Fuß bereits im nächsten Projekt. Der Architekt Michael Webb entwarf in den 1960er Jahren eine Wohnzelle, die zusammengefaltet auf dem Rücken getragen und überall zu einer Unterkunft werden kann. Einst eine progressive Utopie, heute fast schon eine zwingende Konsequenz einer rastlosen Gesellschaft. Wo die Austauschbarkeit zum dominierenden Prinzip des Lebens wird, ist nicht nur der Mensch nirgends mehr zu Hause, vielmehr kann der Mensch längst nicht mehr bei sich zu Hause sein.

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