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Das Promi-, Szene- und Politikbetriebsrestaurant Borchardt in der Französischen Straße in Berlin-Mitte

© dpa-bildfunk

Kolumne: Essen in der Molekularküche

Ein Abend in einem hochgerühmten Berliner Etablissement: Teller mit winzigen Bröckchen, ein stammelnder Kellner, matte Paare: Gemütlichkeit kommt so nicht auf. Dann lieber eine Flasche einfachen Chianti ohne Chichi. Eine Kolumne.

In den großen Restaurants lässt sich die Gesellschaft besonders gut studieren. Denken Sie bitte nicht, dass ich eine Stütze derartiger Lokale bin. Aber dank einer großzügigen Einladung konnte ich einige Stunden in einem hochgerühmten Berliner Etablissement verleben. Seinen Namen behalte ich für mich. Nur die von den Restaurantführern verliehene Eigenschaft „gastro“ erwähne ich – eine seltsame Koseform, bei der mir nicht gerade das Wasser im Mund zusammenläuft. Eher denke ich an eine scheußliche Kolik, die die Eingeweide zerdrückt und die Einnahme einer halben Schachtel Imodium erzwingt, als an einen Genusstempel.

Verspannt andächtige Atmosphäre in minimalistischem Dekor

Sobald man über die Schwelle tritt, erstarrt man, man senkt die Stimme, gebeugt und auf Zehenspitzen nähert man sich dem Tisch, den man von einem langen Lulatsch mit übermodischem schwarzem Anzug und angestrengt lässigen Turnschuhen zugewiesen bekommt. Als bräuchte man für ein gutes Essen diese verspannt andächtige Atmosphäre in minimalistischem Dekor. Wie ein Schwarm von verkrampften (und verkrampfenden!) Raben kreisen die Kellner um unseren Tisch. Kaum hat man sich auf einem Lederstuhl niedergelassen, kommt auch schon ein riesiger Teller mit einem winzigen Bröckchen eines nicht erkennbaren Gerichts angesaust.

Die Küche lässt grüßen und gibt uns ein erstes Rätsel auf. Ein dünner Junge zählt das Menu auf wie ein stammelnder Abiturient. Nach wenigen Minuten erscheint ein weißer Teller, auf den ersten Blick leer. Endlich entdeckt man in einem Eckchen drei pastellfarbene Rechtecke und ein Reagenzglas mit kalter Suppe. Molekularküche. Steril wie in einem Labor. Kein Fleckchen Sauce, kein Duft. Dann kommt der Sommelier und doziert monoton. Zehn Minuten Hohe Messe: die großen Winzer, die Rebsorte, die Anbaugebiete. Bis man erschöpft und verwirrt um Gnade bittet und irgendwas bestellt.

Besonders beeindruckend finde ich das Schweigen. Ein kompaktes hartnäckiges Schweigen, manchmal durch den dünnen Faden einer ausdruckslosen Stimme, ein Murmeln unterbrochen. Ein halbes Dutzend Tische ist besetzt. Aber niemand spricht laut. Niemand lacht. Die Frau gegenüber rührt mit der Löffelspitze in einem Pflanzensud und stirbt vor Langeweile. Ihr Mann, die beiden Kinder – ihre Augen starren auf die übergroßen Teller. Den ganzen Abend denke ich über das herausgeputzte junge Paar am Tisch nebenan nach: Liebespaar oder nicht? Sie sind etwas zu chic angezogen, das deutet darauf hin, dass dieser Abend ein Loch in ihr Portemonnaie reißen wird.

Zwei Erwachsene mit kindlichen Gesichtern feiern etwas ganz Besonderes. Auf jeden Fall fühlen sie sich unwohl. Kein Mal berühren sie sich an den Händen. Kein Mal hat er ihren Arm genommen, um ihre Hand zu küssen oder ist ihr unter dem Tisch mit dem Fuß näher gekommen (ich habe darauf geachtet!). Bruder und Schwester? Arbeitskollegen? Viel zu jung, um ein mattes altes Paar zu sein. Sie wissen nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollen, sie essen mit gespitzten Lippen wie zwei ängstliche kleine Katzen. Ihr Anblick macht mich traurig. Dabei ist es doch bekannt: Guter Wein, gutes Essen lösen die Zunge, entspannen, lösen Gelächter und gute Laune aus. Und schließlich möchte man einfach auf den Tisch hauen, um diese düstere Versammlung von Seminaristen aufzuwecken. Man geht. Endlich.

Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.
Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues.

© Thilo Rückeis

Tausend nicht identifizierbare Geschmacksrichtungen auf der Zunge. Kräuter aus Bhutan, Algen aus China, Blüten aus Japan, ausgeklügelte Gewürze, die auf irgendeinem Berg am Ende der Welt wild wachsen, extravagante Saucen, mexikanische Schokoladenkristalle und die lange Prozession der Grands Crus. Basta! Nur noch einen Wunsch hat man: einen Teller Spaghetti aglio olio und dazu ein Flasche einfacher Chianti ohne Chichi. Ja, meinetwegen auch einen spießigen Chianti in seiner Korbflasche! Man möchte dem Wirt die Hand schütteln: klein, stämmig, behaart, die Stirn schweißtriefend, die Schürze mit Saucen und Saft bekleckert. Man möchte ihn auf seine fettverschmierten Wangen küssen.

Man möchte in der lärmenden Menge untertauchen, man möchte sich vor Lachen auf die Schenkel schlagen, im Hintergrund Mandolinenklänge. Man hat Lust auf Kitsch, auf schlechten Geschmack, auf überladenes Dekor: Fischernetze an der Decke, karierte Tischdecken, Kerzen, Salz und Pfeffer in Gondeln, ein fluoreszierendes Aquarium, künstliche Blumen – ja, man akzeptiert alles! Hauptsache, auf unseren vollen Tellern tobt das Leben!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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