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Kon-Tiki im Kino: Einfach mal treiben lassen

Er hatte eine Theorie, die niemand glaubte, aber ihn trug sie 8000 Kilometer weit über das offene Meer. Dafür baute Thor Heyerdahl 1947 ein steinzeitliches Floß mit einer Hütte darauf. Er nannte es Kon-Tiki. Sein Enkel hat die Fahrt nach Polynesien wiederholt. Und ein Film erzählt jetzt von dem Abenteuer, ein Heyerdahl zu sein.

Er fürchtete sich vor dem Wasser. Und schwimmen konnte er auch nicht. Aber der Hydrophobiker hatte eine Theorie. Die Theorie besagte, dass Polynesien nicht, wie bisher angenommen, von Asien aus besiedelt worden ist, sondern von Südamerika her.

Am Beispiel des Norwegers Thor Heyerdahl lässt sich lernen, was es bedeutet, eine Theorie zu besitzen und wohin sie einen bringen kann: im Zweifelsfall von Südamerika bis nach Polynesien, auf einem kleinen Holzfloß, fast 8000 Kilometer weit über den Stillen Ozean. Und wir ahnen noch viel mehr: War Gott der erste Migrant? Tiki, der Sonnengott aus Peru?

Seit Donnerstag kann jeder Thor Heyerdahls legendäre Reise von 1947 noch einmal machen, im Kino.

„Alle Hollywood-Studios wollten diesen Stoff, aber mein Vater hat jedes Mal abgelehnt“, sagt Thor Heyerdahl jr.. Die Bugwelle des größten norwegischen Films aller Zeiten hat Sohn und Enkel des Abenteurers auf diese Couch in Berlin gespült. Sein Hauptheld kann ihn nicht mehr sehen, im April 2002 ist Thor Heyerdahl gestorben. Sohn und Enkel schauen sich an. Denn dass diese Kino-Sache gut ausgehen würde, schien lange mindestens ebenso fragwürdig wie die Ankunft der Kon-Tiki in Polynesien.

Thor bedeutet Donnerer, dabei würde man diesem friedfertigen Mann im Anzug, der den Namen seines berühmten Vaters trägt, auch glauben, wenn er sagte, er sei Buchhalter. Und Olav, der Enkel: Ein freundlicher, blonder Vertreter der Generation Praktikum? Aber er hat vor sieben Jahren die Fahrt seines Großvaters wiederholt. Der gleiche Wahnsinn, noch einmal. Und sein Vater wurde in der Hütte des letzten Kannibalen von Fatuhiva gezeugt! – Nein, es muss an der Couch liegen. Dieses symbolische Möbel der bürgerlichen Behaglichkeit ist der Widerruf jeden Heldentums. Es gibt keine Heroen mit Sofa.

Eroberer wird, wer die sitzende Haltung dem Leben gegenüber grundsätzlich ablehnt. Wie Thor Heyerdahl d. Ä.? Doch hier lauert bereits der Irrtum. Denn der Sohn des Brauereibesitzers aus Larvik hatte eine irgendwie seitenverkehrte Furcht: Angst gerade vor dem Sofa, und dem ganzen Leben, für das es stand. Angst vor Mädchen. Angst vor der Schule. Angst vorm Fußball.

Thor Heyerdahl war das Projekt seiner Mutter. Alison Heyerdahls Sohn sollte anders werden als die Art Mann, die sie kannte. Vor allem anders als ihr eigener, der Brauereibesitzer. Und doch war es nicht hilfreich gewesen, dass sie ihn gleich in die zweite Klasse einschulen ließ. Der einmal berühmteste lebende Norweger der Welt hätte nicht einmal ein Mädchen beim Walzer führen können, geschweige denn eine Expedition über den Pazifik. Heyerdahls Biograf Ragnar Kvam jr. hat das mit größtmöglicher Schonungslosigkeit so ausgedrückt: „Er war der Kleinste, der Schwächste und der Dümmste in der Klasse.“

Aber was sollen Sohn und Enkel jetzt dazu sagen? So spricht man nicht über Großväter, schon gar nicht über diesen. Dabei ist die Urgeschichte eines Helden immer wichtig und im Film nicht zu ahnen. Statt sich zum ersten Exemplar einer neuen Stufe der männlichen Evolution aufzuschwingen, dachte der Sohn der überzeugten Darwinistin Alison Heyerdahl irgendwann nur noch an Flucht nach unten: Zurück in die Steinzeit! Zurück zu den Anfängen! Zurück in den Garten Eden, wo es keine Walzer, keinen Fußball, keine Schulklassen gab. Und keine Zeit! Zeitlos werden auf Fatuhiva. Er suchte einen „Fleck, den die Welt übersehen hatte“.

Auf Fatuhiva beginnt der Film. Thor und Liv Heyerdahl – Pal Sverre Hagen und Agnes Kittelsen – sitzen am Strand und hören dem letzten Inselkannibalen zu, der ganz allein in einem ausgestorbenen Dorf lebt. Die Bewohner der anderen Inselseite rechnen ihn bereits zu den Ahnen. Dass Heyerdahl im Garten Eden nicht allein ankommen durfte, war ihm gleich klar gewesen. Kein Adam ohne Eva! Auch gedachte er nicht, jemals zurückzukehren.

„Tiki war Gott und Häuptling zugleich", berichtete der Alte am Strand, nachdem er erklärt hatte, dass nichts über das Fleisch der Unterarme junger Mädchen gehe, in Bananenblättern gebacken: „Tiki war es, der unsere Vorfahren auf diese Inseln gebracht hat, auf denen wir heute leben.“ Und zwar von Osten.

Tiki bedeutet Gott, Sohn der Sonne.

"Mein Vater hat seiner Theorie vollkommen vertraut."

Seine Statue hatte der Aussteiger, dieser Fundamentalist der Anfänge, kurz zuvor auf der Nachbarinsel oben in den Bergen gefunden: Augen groß wie Waschzuber und ein Lachen von einem Ohr zum anderen. Ein missratener Troll. Und seltsam, den gab es auch in Peru. Dieses Trollsgöttergesicht würde einst am Segel ihres Floßes prangen: Freie Fahrt für freie Götter! Denn Ozeane sind keine Barrieren, sie sind Straßen, begann Thor Heyerdahl zu ahnen. Der Humboldtstrom kennt den Weg! Aber halten wir ruhig fest: Auf der Aussage eines alten Kannibalen, querstehend zur Auffassung der vereinigten Professorenschaft der Erde, gründete letztlich die ganze Expedition?

Thor und Olav Heyerdahl auf ihrem Berliner Sofa verstehen die Frage nicht, genauer: die Frage in der Frage. In Glaubensdingen ist das so. Jeder Gläubige ist ein Spezialist für die äußerste Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Hätte Olav Heyerdahl die Theoriebeweiswiederholungsfahrt angetreten, ohne jene Gewissheit, die beginnt, wo jede Versicherung aufhört, die nun einmal braucht, wer sich auf neun Stämmen über den Stillen Ozean treiben lässt?

„Elf Stämme“, korrigiert Olav Heyerdahl. „Die Kon-Tiki hatte neun, wir hatten elf. Es war komfortabler so.“

Olav Heyerdahls Floß heißt Tangaroa, und es spielt die Kon-Tiki im Film. Beide sind genau nach dem Vorbild der alten Inka-Flöße gebaut, ganz aus Balsaholz. Als Heyerdahl die riesigen Stämme einst in Ecuador fällen ließ, gab er zuvor jedem einen Namen. Die alten Polynesier hatten das ebenso gemacht. Der erste Baum hieß Ku, es folgten Kane, Kama, Ilo, Mauri, Ra und die anderen. Heute liegen sie unter der Aufsicht des Sohnes im Osloer Kon-Tiki-Museum. Nur wir allzu Modernen begnügen uns mit der Anonymität der Dinge, bloßer Mittel.

Sein Enkel lächelt leise. Ja, natürlich, auch sie haben den Bäumen Namen gegeben, bevor sie Hand an sie legten.

Die Kon-Tiki wurde 1947 im Marine- hafen von Callao, Peru, gebaut. Thor Heyerdahl beschrieb den Kontrast so: „Roh behauene Stämme, gelber Bambus, Binsen und grüne Bananenblätter lagen als Baumaterial zuhauf inmitten von Reihen dräuender grauer U-Boote und Zerstörer.“ Alle, die zur Inspektion vorbeikamen, vom Marineminister abwärts, glaubten an einen furchtbaren Irrtum, sie waren – so der Expeditionsleiter – „entsetzt bis auf den Grund ihrer Seele“. Und nicht nur, weil bis auf Heyerdahls Jugendfreund Erik Hesselberg keiner der Männer an Bord jemals zur See gefahren war. Wozu auch? Die Kon-Tiki ließ sich ohnehin kaum steuern. Der Untergang schien sicher, spätestens nach 14 Tagen. Denn dann, urteilte die maritime Welt, würde das letzte Tau gerissen sein.

„Ich war damals neun Jahre alt“, sagt Thor Heyerdahl jr., „ich habe niemals Angst um meinen Vater gehabt, meine Mutter auch nicht.“ Und der Sohn beginnt eine noch immer erstaunliche Beweisführung für die Seetüchtigkeit des Floßes: „Mein Vater hat seiner Theorie vollkommen vertraut. Meine Mutter wiederum hatte vollkommenes Vertrauen in meinen Vater.“ Auch als sein eigener Sohn losfahren wollte, habe er nicht einen Augenblick Angst gespürt: „Meine Frau ja, ich nicht.“

Der schöne, bildmächtige und zugleich zurückhaltende Film von Joachim Rønning und Espen Sandberg – er kommt fast ohne Musik aus – erhält seine tragikomischen Momente bis zum Schluss nicht zuletzt aus dem sorgenvollen Blick des Kühlschrankvertreters an Bord, dem es in seinen enthusiastischsten Augenblicken ehrenvoller erscheint, mit einem kaum steuerbaren Inka-Floß im Pazifik unterzugehen als ein Leben im Dienste der Kühlaggregateindustrie zu fristen. Er wird nie aufhören, den Vorschlag zu unterbreiten, die Hanfseile durch solche aus Metall zu ersetzen. Und in der Tat schien sich jeder Stamm unter ihnen bald auf seine ganz individuelle Reiseroute vorzubereiten. Ein großer Klagechor hob an, zumal im Dunkeln, denn jedes Tau hatte – je nach Stärke und Spannung – seinen eigenen Ton.

Wie soll ein Film das zeigen, das hörbar machen? Aber es gelingt. Wir spüren sogar, wie aus diesem Klagechor unter ihnen ein Garant der Stabilität wird: Heimat. Das Balsaholz war so weich, dass sich die Taue langsam in die Stämme schneiden konnten.

Trotzdem finden Sohn und Enkel es wunderbar, wie der Abgesandte der Kühlaggregate an seiner eisernen Reserve – seiner Reserve aus Eisendraht – festhalten darf, während ihr Vater und Großvater darauf beharrte, wie Tiki zu reisen.

Es fehlt manches im Film, etwa, wie die Kon-Tiki um ein Haar schon im Hafen gesunken wäre. Aber Thor und Olav Heyerdahl können gut erklären, was in einen Film passt und was nicht. Wenn er doch etwas vermisst, sagt Olav Heyerdahl, dann die Wohnzimmerfußbodenperspektive des Floßes: Unter dem Teppich das Meer! Wenn sie die Schilfmatten hoben, auf denen sie schliefen, schauten sie direkt auf irgendeine Schwanzflosse. Viele Meerestiere entdeckten das Floß als bequeme Alternative zum Selberschwimmen.

Sein Großvater hatte auf Fatuhiva den Garten Eden gesucht. Jetzt wuchs dieser Garten am Floß, auf der Tangaroa ebenso wie zuvor an der Kon-Tiki. Ein großer Tierkindergarten. Im Film vertritt ihn die Krabbe Johannes. Die Krabbe Johannes ist wie fast alles andere auch authentisch. Johannes war die einzige Krabbe, die sich nie versteckte, sondern immer „breit und rund in der Türöffnung saß und mit Stielaugen auf den Wachwechsel wartete“.

Und die kleine Bambushütte auf beiden Flößen – was war sie? Die transportable Urhöhle, das Bergende, das Umfangende mitten auf dem Ozean, dabei zu einem Drittel offen und durchlässig für Sonne, Mond und Wind.

Tiki war doch anders gereist als sie, er konnte steuern

Auf Fatuhiva hatte Thor Heyerdahl einst seine Uhr zerschmettern und die Zeit begraben wollen. Die ewige Sehnsucht der Seele geht zum Raum, sagt man. Es gelang nicht, nicht ganz, aber jetzt war es so weit. Die Zeit hörte gleichsam auf zu existieren. „Wir sind unglaublich langsam geworden“, erklärt Olav Heyerdahl, „aber wir haben jeden Geburtstag unserer Kinder und Freunde an Bord gefeiert.“ Sie waren wie kleine Kerben in der Ewigkeit. Als sie schließlich Land vor sich sahen, spürten sie etwas, womit sie nie gerechnet hatten: Enttäuschung.

Am liebsten wären sie gleich weiter nach Australien gesegelt. Die Probe der ersten Nacht im Hotel bestand keiner. Irgendwann trafen wir uns alle auf dem Floß wieder, sagt Olav Heyerdahl.

Nicht nur, dass die Tangaroa neun statt elf Stämme hatte und größere Segel, was sie 30 Tage schneller machte. Ihre Besatzung ist auch anders an Land gegangen. Sie ist einfach ausgestiegen. Die manövrierunfähige Kon-Tiki aber trieb auf das Riff vor Raroia zu. Sie konnte weder nach links noch rechts, sie konnte nicht zurück. Würden sie zerschellen, den Strand von Raroia vor Augen, nach achttausend Kilometern?

Vielleicht hat Thor Heyerdahl, die tödliche Brandung des Riffs im Ohr, noch einmal alles überdacht: Weil kein Verlag seine Untersuchung „Polynesien und Amerika. Das Problem ihrer Kulturverwandtschaft“ veröffentlichen wollte, hatte er diese eher unakademische Form der Beweisführung gewählt. Die Sprache weiß von einer tragfähigen Theorie. Ja, eine Theorie trägt, im Extremfall achttausend Kilometer. Aber von der Landung hatte Tiki nichts gesagt. Wie das ausging, zeigt der Film.

Tiki war doch anders gereist! Tiki konnte manövrieren! „Irgendwann hat mein Großvater das erkannt“, sagt sein Enkel, „der größte Unterschied unserer Flöße lag in der Steuerung. Wir besaßen – wie Tiki wohl auch – hochziehbare Kiele.“

Das Meer hat sich verändert in den letzten fast 60 Jahren. Die Kon-Tiki schwamm inmitten von Haien. Olav Heyerdahl sah drei. In einem Ozean von Müll. Drei Jahre später ist Olav Heyerdahl noch einmal über den Pazifik gefahren. Sein Katamaran hieß Plastiki – Kunststoffgott – und bestand aus 16 000 Plasteflaschen. Sie trugen ihn von San Francisco nach Sydney.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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