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Kultur: Konsum schafft Arbeit

Seismographen sind feine Geräte.Auf leichteste Erschütterungen reagieren sie mit klarem Ausschlag.

Seismographen sind feine Geräte.Auf leichteste Erschütterungen reagieren sie mit klarem Ausschlag.Mit Kindern im Theater ist es ähnlich.Nirgendwo läßt sich besser erkennen, was funktioniert und was nicht auf der Bühne, was zu lang, zu kurz, zu schwierig oder zu leicht ist.Und was man Kindern zumuten kann an schwierigen Themen.Die Stücke, die das Grips-Theater in bewährter Tradition seit Jahren herausbringt, sind Beweis dafür: Realistisch, witzig und vorsichtig optimistisch sprechen sie Themen an, denen Zehnjährige auch im Alltag begegnen.

Antisemitismus, Erpressung, Mobbing, Ost-West-Konflikte, Sexualität, Drogen standen bislang auf dem Programm.In der jüngsten Produktion, Lutz Hübners "Alles Gute", geht es um Armut und Arbeitslosigkeit.Die 11jährige Aline leidet darunter, dem Konsumterror der Schulkameraden nicht standhalten zu können.Während in Videoclips Marken wie Adidas, Calvin Klein oder DocMartins über die Bühnenwand flimmern, wird bei ihr zuhause Billigfood aus dem Supermarkt aufgetischt, müssen zu kostspieligen Schulausflügen immer Ausreden erfunden werden, werden Geburtstage einem Picknick im Grünen gefeiert.Die Mutter arbeitet als Putzfrau und schmeißt den Haushalt, der Bruder hängt auf dem Arbeitsamt herum und trinkt Bier, und der Vater, der jeden Morgen pünktlich das Haus verläßt, ist eigentlich seit langem arbeitslos.

Da ist es Pech, daß Aline ausgerechnet Nadine, der Neuen, imponieren möchte: Die verwöhnte Tochter reicher Eltern ahnt nichts von den finanziellen Nöten der Freundin, sondern drängt noch darauf, daß Alines 12.Geburtstag diesmal richtig groß begangen werden soll.Mit Dampferfahrt, Disco und den Backstreet Boys.Und natürlich der ganzen Klasse zu Gast.Schätzungswert: Zweitausend Mark.Ein Geburtstag, den keiner der Beteiligten vergessen wird.

Konsumterror ist offenbar auch den Berliner Kids, die mit ihren Eastpack-Rucksäcken und Benetton-Shirts im Zuschauerraum sitzen, nicht fremd.Für Alines Angst, von den Klassenkameraden verlacht zu werden, zeigen sie spontan Verständnis.Und sind ansonsten hellwach dabei, wenn es gilt, Höhepunkte oder Schwächen der Aufführung zu kommentieren.Schon bei den ersten Rhythmen gehen sie klatschend mit, kommentieren eine Umkleideszene auf offener Bühne mit schrillen Pfiffen, helfen sogar beim Aufräumen, wenn die Bühne am Ende aussieht wie ein Schlachtfeld.Jeder Gag wird mit einem Lacher belohnt, die Bühnenarbeiter in der Pause mit Fragen gelöchert, die Darsteller am Ende mit Handschlag belohnt.Aber, und das ist die andere Seite der Medaille, die 10- bis 15jährigen reagieren auch sofort auf Durchhänger, in denen das mit zwei Stunden recht lange Stück an Schwung verliert, strafen eine zu lange Umbaupause mit ungeduldigem Trampeln, werden deutlich unruhig, wenn die Spannung nachläßt.Kinderpublikum, das ist gefährliches Theater.Es läßt sich nichts vormachen.Und kennt das Leben.

In diesem Jahr nur noch Karten für die 16-Uhr-Vorstellungen am 21.11.und 29.11.Nächste Vorstellungen im Januar: 7.-9.1., 11.und 12.1., jeweils 10 Uhr

CHRISTINA TILMANN

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