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Kultur: Kontakthof der Verrückten

Das Inferno der Seelen expandiert.Mehr Raum, mehr Stoff, mehr Menschen.

Das Inferno der Seelen expandiert.Mehr Raum, mehr Stoff, mehr Menschen.Lars Norén, der sich mit Fleiß das Etikett eines Strindberg-Nachfolgers erschrieben hat, neben Per Olov Engquist der bekannteste und einflußreichste schwedische Dramatiker der Gegenwart, hat mittlerweile die Ehehölle als Arena überhitzt neurotischer Metzeleien hinter sich gelassen und ein neues Schattenreich menschlicher Existenz gefunden.Als "Eine Art Hades" stellt er uns nun, in deutschsprachiger Erstaufführung am Staatstheater Kassel, ein Panorama des Lebens vor, angesiedelt in einer psychiatrischen Anstalt voller Verrückter wie du und ich.Da gibt es den Studienrat für Latein und Griechisch, der ein ganzes Leben lang unter seinem herrischen Vater gelitten hat und sich bis heute, obwohl der Erzeuger mittlerweile ein sabbernder Greis ist, mit psychopathischer Fixierung an ihm abarbeitet - darüber ist der Lehrer Axel (Martin Baum) zum Päderasten geworden; oder die junge Marie (Antonie Boegner), die nach einem Selbstmordversuch in die Anstalt eingeliefert worden ist und sich hier in die fixe Idee vergräbt, vom eigenen Vater mißbraucht worden zu sein - was aber, wenn uns Herr Norén nicht doch in die Irre führt, der Vater glaubhaft abzustreiten vermag.Nach und nach lernt man sie kennen, die Insassen in diesem Hospiz der kranken Seelen.So den durchgeknallten Börsenmakler (Felix Römer) in feinem Tuch, immer noch sein abgeschaltetes Handy in der Hand, als wolle er panisch festhalten an jenem Leben, das er als Todgeweihter nun nicht mehr führen kann - er hat Aids und redet sich das Leben vom Leib.Oder die aus dem wohlgeordneten bürgerlichen Leben gekippte Dame mit rotem Haar (Ute Zehlen).Das Schräubchen, das bei ihr locker ist, sitzt genau in des Körpers Mitte: ihr Mann, erzählt sie, habe ihr einst die Klitoris abgebissen, und sie erzählt es jedem, der es nicht wissen will, und erzählt noch manches Appetitliche mehr.

Was passiert in Noréns Stück mit den gut zwei Dutzend Menschen, die hier in ständigem Wechsel auftauchen und wieder verschwinden? Eigentlich garnichts.Menschen treffen sich und erzählen, weil es anderes nicht zu tun gibt in diesem Raum, diesem Kontakthof der verrückten Einzelnen, der in der Kasseler Aufführung die Tristesse einer leergeräumten Bahnhofshalle hat (Bühne: Lilot Hegi).Menschen tauchen auf, reden, andere kommen, einige gehen.Was treibt sie noch, die Figuren hier, die - teils unter dem Einfluß von Medikamenten, teils schon abgetötet vom ereignislosen und ziellosen Vergehen der Zeit - wie Lemuren dahinleben im Einerlei der gesichtslosen Tage? Kleine Schrullen bilden sich aus, Obsessionen, Regressionen in pubertäre Vergangenheit wie bei jenen beiden Männern (Carlo Ghirardelli und Wolfram Mucha), die sich gemeinsam zurücksacken lassen in jene Zeit, da Mama unter der Dusche stand und sie selber auf dem Bett lagen, masturbierten und sich wünschten, daß Mama sie sähe ...Dieser Austausch von Erinnerungen ist ein selbstgeschaffener Moment des Glücks und der Selbstauflösung, da schaffen Phantasie und Imagination kleine Auswege aus dem Trott einer psychiatrischen Anstalt, die der Ort unseres Lebens ist.

Lars Norén, der als junger Mann nach dem Tod seiner Mutter eigene Erfahrungen mit der schwedischen Psychiatrie machen mußte, verläßt mit diesem Stück den Seelenkäfig bürgerlicher Wohn- und Schlafzimmer, der Beziehungskrisen und -Wüsteneien, die er zwei Jahrzehnte mit militanter Phantasie ausstaffiert und radikalisiert hatte, um jetzt den Blick zu öffnen auf den größeren Raum von Gemeinschaften, von Gesellschaft.

ECKHARD FRANKE

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