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Deichkind auf der Bühne.

© Hans Punz/AFP

Konzert von Deichkind in Berlin: Mehr Schwachsinn wagen

Grandiose Dauerparty in Krisenzeiten: Deichkind spenden in der Max-Schmeling-Halle geistigen Beistand mit ihrem hedonistischen Unfug.

Unsere Welt ist nicht im besten Zustand: Deutsche horten Nudeln und Klopapier, an der europäischen Grenze knüppeln Neonazis Geflüchtete nieder, Klimawandel-Leugner holzen den Amazonas ab, ein wahnsinniger US-Präsident glaubt den Nahostkonflikt zu lösen. All das ist grauenhaft, gefährlich, schwachsinnig. Doch was soll man dagegen tun? Mehr Vernunft, Moral, Aufklärung? Oder besseren Schwachsinn produzieren?

Deichkind haben sich für Letzteres entschieden: Das Hamburger Electro-HipHop-Proll-Kunst-Projekt, das im Herbst sein letztes Album „Wer sagt denn das?“ veröffentlicht hat, glaubt an die subversive Kraft des Dada und will die Welt wenigstens lustiger machen. Oder wie ist es sonst zu verstehen, dass zu Beginn des Konzertes in der Max-Schmeling-Halle Werner Herzog aus dem Off davor warnt, dass man von Handyblitzen erblinden kann und daraufhin auf der noch geschlossenen Leinwand ein nackter Lars Eidinger zu sehen ist, der an einem Kran als menschlicher Pinsel in einen Bottich mit blauer Farbe getunkt wird und daraufhin große weiße Flächen beschmaddert?

Bevor der Eindruck aufkommt, die Band rund um Philipp „Kryptic Joe“ Grütering und Sebastian „Porky“ Dürre formuliere doch ernsten Kunstanspruch, ballert der Stampfer „Keine Party“ als Eröffnungstrack aus den Boxen. Dessen Parole stellt das Gegenteil des Abends dar: zweieinhalb Stunden lang feiern, tanzen, ausrasten. „Alles erledigt, die Welt ist fertig“, singen Deichkind, als seien sie die letzte Band auf der Titanic, die sich die Stimmung durch Weltuntergänge nicht vermiesen lassen will.

Hedonistischen Unsinn als positive Kraft

Deichkind geht es um den hedonistischen Unsinn als positive Kraft: „Wir ziehen den Karren zusammen aus dem Dreck!“, ruft Grütering, als wisse er, welche Funktion ihre Musik für die Moral und Psycho-Hygiene der Anwesenden besitzt. Ob es Grütering oder jemand anderes aus der über zehnköpfigen Band war, ist nicht klar, da sich alle in der Regel die gleichen Kostüme anziehen: vom Alumatten-Anzug bis zum Dreiecks-Helm mit Smartphone-Jacke.

„Leider geil“, „Bück dich hoch“, „Richtig gutes Zeug“, „Arbeit nervt“ – die Sloganmaschine läuft auf Hochtouren, und das Publikum skandiert die Schlachtrufe der Hip-Hop-Postmoderne mit großer Bejahung. Gefeiert werden die Trinklieder. Bei „1000 Jahre Bier“ schweben leuchtende Dreieck-Angeln über den Köpfen der Zuschauer. Aus den daran befestigten Schläuchen werden ihre Trinkbecher mit Bier gefüllt. Bei „Roll das Fass rein“ rollt ein großes Fass durch die Zuschauermenge, auf dem eins der Deichkinder eine Fahne mit der Aufschrift „Kein Bier für Nazis!“ schwenkt. Dass die Band selbst in den bescheuertsten Gaga-Songs humanistische Haltung und intellektuelle Ironie aufblitzen lässt, ist ein künstlerisches Verdienst der Hamburger.

Ein durchkomponiertes Spektakel

Wie bei jedem Deichkind-Auftritt spielt die Optik der Show die Hauptrolle: Das Konzert ist ein durchkomponiertes Spektakel. In Plastiktüten gewandete Tänzer liefern sich Schlägereien in Slow Motion, die Band erscheint als große Köpfe mit Beinen auf der Bühne, riesige, aufblasbare Kothaufen-Emojis lächeln auf die Besucher herunter, eines der Deichkinder fährt auf einem Trampolin-Boot über das Publikum und pfeffert Unmengen weißer Federn in die dankbare Menge. Laufend geschehen Dinge, die verblüffen, verstören, erfreuen, ratlos machen.

Die Band will keinen Moment Langeweile aufkommen lassen, doch auf die gesamte Länge des Konzerts nutzt sich der permanente Auf-180-Modus ab. Zeit zum Verschnaufen bieten lediglich die Umbaupausen, auch der Smalltalk mit dem Publikum fällt spärlich aus. Doch wo bekommt man schon zweieinhalb Stunden tanzbare Dada-Unterhaltung mit cleveren Texten und Samples von Daftpunk bis Billie Eilish geboten? Deichkind liefern grandiosen Schwachsinn, der am Ende die verführerischere Alternative zur Vernunft darstellt. Egal wie viel Vernunft unsere Welt gerade braucht, die Unvernunft von Deichkind braucht sie mindestens ebenso.

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