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Kraftwerk beim Konzert zum Album "Autobahn" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Ganz links im Bild Bandgründer Ralf Hütter.

© Jens Kalaene/dpa

Kraftwerk in Berlin, das 1. Konzert: Autobahn - viel Verkehr und viel viel mehr

Immer fahren, immer weiter, nicht nur auf der Autobahn: Kraftwerk spielen an acht Tagen jeweils ein Album und mehr in der Neuen Nationalgalerie. Wir schreiben zu jedem Auftritt eine Konzertkritik. Gerrit Bartels macht den Anfang mit "Autobahn".

Gesehen hat man sie in den vergangenen Tagen fast bis zum Überdruss: die Bilder von den vier Kraftwerk-Musikern, wie sie in ihren hautengen schwarzen, von weißen Gittern durchkreuzten Neopren-Anzügen auf der Bühne stehen, vor sich in einem akkurat gleichen Abstand zueinander ihre nicht einsehbaren Technik- und Sound-Pulte, dahinter die riesigen Video-Installationen.
Die Bilder stammen von Konzerten in London, Karlsruhe, Eindhoven oder auf Malta, aber auch von den 3-D-Konzertreihen „1-2-3-4-5-6-7-8“, die Kraftwerk schon 2012 in New York und 2013 in Düsseldorf acht Tage lang aufgeführt haben, so wie jetzt die nächsten Tage bis zum kommenden Dienstag in der Neuen Nationalgalerie, bevor diese wegen ihrer Sanierung einige Jahre schließt.

Trotz dieser Bilderflut, dem Eindruck, das alles schon zu kennen, ist es aber etwas völlig Anderes, das Ganze live zu erfahren – und sich am Dienstagabend in der Neuen Nationalgalerie zum Auftakt dieser abermaligen Werk-Retrospektive zusammen mit den vier ältlichen Herren auf die Autobahn zu begeben, mit dem 68 Jahre alten Ralf Hütter und den Seinen (wobei der ewige Mastermind Hütter als einziger von der Ursprungsbesetzung stammt, was aber egal ist und dem Mensch-Maschine-Konzept der Band nur förderlich). Mit der 3-D-Brille auf dem Kopf glaubt man förmlich, in die Bilder gesaugt zu werden, die in den Raum schwebenden Noten braucht es dafür gar nicht. In der Mitte rollt sich das graue Straßenband auf, rechts und links ziehen die lieblich-grünen Wiesen und manchmal das blaue Autobahnschild vorbei, über all dem strahlt der knallhellblaue Himmel. Bisweilen stellt sich das Gefühl ein, den grauen VW-Käfer mit dem Kennzeichen D-KR-70 (Düsseldorf, 1970, Kraftwerk-Gründung nach Hütter und Florian Schneider, dem anderen ewigen, inzwischen aber auch ausgestiegenen Mitglied!) oder den schwarzen Heckflossen-Benz mit D-KR-74 (1974, Erscheinen von "Autobahn"!) selbst zu steuern.

Kraftwerk gemahnen an Big Data und die Gencode-Entschlüsselung

Es herrscht manchmal viel Verkehr auf dieser Autobahn, es ist der Verkehr, das sieht man deutlich, der siebziger Jahre. Im schönen Kontrast zu der statischen Bühnenperformance der Musiker gibt es dann auch musikalisch viel Bewegung: Kraftwerk spielen zwar zu Beginn das Titelstück ihres eigentlich vierten, nach eigener Lesart aber offiziell ersten Albums „Autobahn“, aber nicht die vollen 22 Minuten, sondern eine knapp viertelstündige Version. Auf diese folgen ebenfalls leicht veränderte Versionen von anderen Stücken des Albums wie „Kometenmelodie“ oder „Morgenspaziergang“ (ganz flötenlos leider, Schneider ist ja nicht mehr dabei), dazu laufen Bilder des Universums oder einer Vor- und Schlafstadt.

Nach einer halben Stunde geht es in den Größte-Hits-Teil über, beginnend mit „Radioaktivität“ vom gleichnamigen 75er-Album sowie „Spacelab“ und „Das Model“ jeweils von „Mensch-Maschine“. Zu „Spacelab“ landet das die Welt umkreisende Raumschiff, ein hübscher Gimmick!, am Ende auf dem Platz vor der Neuen Nationalgalerie. Das Konzert hat tatsächlich etwas von einer Zeitreise, einer turbulenten, Vergangenheit und Gegenwart schön verbindenden. Einerseits klingt einiges retro, frisch aus dem Zukunftsmuseum: mit bundesrepublikanischer Neonreklame und Klosterfrau-Melissengeist-Logo beispielsweise. Erinnerung ist Trumpf, so wie bei vielen Gesprächen der letzten Tage über Kraftwerk. Der Rolling-Stones-Dinosaurier-Effekt, schlag inzwischen auch nach unter: Morrissey, Smashing Pumpkins etc. Selbst Aktualisierungen wie das Einblenden der Namen von Kernkraftwerksunglücksorten wie Tschernobyl, Stellafield oder Fukushima in das 75er-Stück „Radioaktivität“ wirken in diesem Zusammenhang etwas bemüht.

Andererseits bekommt man Big Data oder die Gen-Code-Entschlüsselung in den Sinn, etwa bei „Computerwelt“, überhaupt ist die knappe Bildersprache von Kraftwerk einmal mehr faszinierend. Oder ein Stück wie „Mensch-Maschine“: Das klingt, als wäre es nachfrisiert worden, um in den Clubs von heute bestehen zu können. Einer der überraschenden Höhepunkte ist der lange, von 2003 stammende Track „Tour de France“ vom gleichnamigen Album, für das sich damals niemand interessierte, geschweige denn begeistern konnte. Er ist nah dran an warmen House- und smoothen Techno-Sounds; die vielen Beats per minute knallen, die Kraftwerkt-typische weiche Melodie umhüllt einen sanft und schön.

Dass der Radsport abgewirtschaftet hat, von wegen Doping!, es nur wenig inkorrektere Sportarten gibt, (Verarsche! Manipulation!) passt gut ins Kraftwerk-Konzept von heute wie gestern. Gegen Ironie hatten Hütter und Co nie etwas, genau so wenig wie gegen Liebe und ungebrochene Romantik. Und dass das Fahren, das On-the-Road-sein viel mit Drogen zu tun hat, weiß heutzutage auch jeder Clubgänger. So schließt sich ein Kreis: Fahr’n, Fahr’n, Fahr`n, egal womit, am Ende mit dem „Trans Europa Express“. Dass als Zugabe „Wir sind die Roboter“ kommt, natürlich mit Roboterfiguren, ist nur recht und weniger billig als typisch perfektionistisch - wie im übrigen auch der großartige, kristallklare Sound in der Nationalgalerie. Sollte man doch einmal live gesehen haben: Analog und live sind Kraftwerk auch im Jahr 2015, über vierzig Jahre nach ihrer Gründung, besser als digital und auf Bildern.

Jeden Tag veröffentlichen wir hier zu allen acht Kraftwerk-Auftritten Konzertkritiken. Morgen bespricht Lorenz Maroldt an dieser Stelle den Auftritt zum Album "Radioaktivität". Um alle Kraftwerk-Kritiken zu lesen, klicken Sie hier.

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