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Kultur: Kraut & Lügen

Das Festival „Faithful!“ im Berghain.

Das Berghain wird immer mehr zu einem Ort, an dem Glaubensfrage verhandelt werden. Erforschte letztes Jahr das Lux-Aeterna-Festival die Spiritualität in Neuer Musik, haben nun die Kuratoren Björn Gottstein und Elke Moltrecht den Techno-Tempel für das Festival „faithful!“ erkoren. Zwar geht laut Untertitel bloß um „Treue und Verrat der musikalischen Interpretation“ – doch nichts ist besser geeignet, musikalische Glaubenssätze offenzulegen als der Versuch, Grenzbereiche der Interpretation auszuloten.

Das beginnt schon bei der anregenden Podiumsdiskussion mit dem Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, dem Dirigenten Lothar Zagrosek, dem Dramaturgen Jörg Königsdorf sowie dem Dozenten und Publizisten Peter Kraut. Willig übernimmt Zagrosek, der Schirmherr des Festivals, die Rolle des Dogmatikers, der in klassischen Meisterwerken zeitlose Wahrheiten formuliert sieht und dem Notentext persönlich „absolute Verbindlichkeit“ zuschreibt. Diederichsen hingegen hält die „Quelle der Wahrheit“ weder im Notentext noch in der Person des bei den Proben anwesenden Komponisten – der ja auch ein pathologischer Lügner sein könne – für lokalisierbar. Er plädiert für ein genreübergreifend anwendbares Modell der Interpretation, das sich aus den vier potenziell gleichberechtigten Bestandteilen Beschreibung, Lesen, Performen und Aufzeichnen zusammensetzt. Schon das musikalische Programm des Eröffnungsabends bietet den Hörern zahlreiche anregende Möglichkeiten, sich selbst zu positionieren.

In der größten Nähe zum Sakrileg bewegt sich dabei das Wiener Gemüseorchester, das mit seinen Karottenflöten, Kürbistrommeln und technoid schmatzenden Wirsingblättern nicht nur Werke der zweiten Wiener Schule zu interpretieren vorgibt, sondern auch einen Zwölfton-Techno auf die Tanzfläche legt. Spannungskurve und Bereitschaft, den Ulk als Kunst zu akzeptieren, fallen mit dem Grad der Wiedererkennbarkeit. Es ist das Fehlen dieser Kategorie, an der die Interpretation von Earle Brwons musikalischen Grafiken durch ein von Cathy Milliken geleitetes All-Star-Kammerensemble krankt: Da die Grafiken für das Publikum unsichtbar sind, bleibt den meisten Hörern auch das die Gruppenimprovisation lenkende Spannungsmoment verborgen. Diederichsens Verdacht, dass bei Brown das Komponistensubjekt dermaßen gestärkt ist, dass es den Interpreten „einkassiert“, scheint sich hier zu bestätigen. Es wird spannend sein zu verfolgen, ob am Ende des Festivals eher der Institution des Komponisten oder der des Interpreten eine Götterdämmerung droht. Carsten Niemann

Noch bis zum 14. Oktober, www.faithful-festival.de

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