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Kultur: Kraxeln auf dem Mama-Massiv

"Der Nußknacker" ist ein beliebtes Kinderballett, das immer in der Vorweihnachtszeit unter Mitwirkung von Kinderscharen auf die Bühne gebracht wird.Maurice Béjart zielt nun mit seiner Neuversion des Ballettklassikers auf etwas anderes: er versucht sich in einer Verteidigung der Kindheit, die gerät ihm freilich zum Plädoyer eines Muttersöhnchens.

Von Sandra Luzina

"Der Nußknacker" ist ein beliebtes Kinderballett, das immer in der Vorweihnachtszeit unter Mitwirkung von Kinderscharen auf die Bühne gebracht wird.Maurice Béjart zielt nun mit seiner Neuversion des Ballettklassikers auf etwas anderes: er versucht sich in einer Verteidigung der Kindheit, die gerät ihm freilich zum Plädoyer eines Muttersöhnchens.Uraufgeführt im Oktober vergangenen Jahres vom Béjart Ballet Lausanne in Turin, hat das Tokyo Ballet das neue Werk seines Chefchoreographen im März herausgebracht.Das Berlin-Gastspiel der renommierten Kompanie in der Deutschen Oper, das ein Wiedersehen mit den stilbildenden Balletten wie "Le Sacre du Printemps", "Petruschka" und "Bolero" ermöglicht, wird nun mit dem "Nußknacker" eröffnet, der als Deutschlandpremiere zu sehen ist.Weihnachten im April - auch beim künstlichen Schneegestöber auf der Bühne kommt nicht so recht Stimmung auf.Doch Béjart weist sein Stück trotz aller märchenhaften Elemente ganz emphatisch als Erinnerungsarbeit aus.Als Videobild schwebt er über der Szene, er erzählt von einem einsamen Kind unterm Weihnachtsbaum, vom Tod der Mutter.Auf der Bühne bevölkert der kurzbehoste Bim seine Einsamkeit mit Phantasiegestalten und Schutzgeistern, einem possierlichen Kater und tuntigen Engeln.Der dämonische M., eine Kreuzung aus Mephisto und dem Choreographen Marius Petipa, wird sein Mentor.Der Knabe, der seine Mutter heiraten wollte, wird sich dereinst mit dem Tanz vermählen - so lautet die Konfession.Die abwesende, die tote Mutter wird hier zur der Ursprung allen künstlerischen Schaffens.Die Ensemble-Szene führt sogleich in einen Ballettsaal, wo M.mit seinem Stock ein strenges Regiment über seine Tänzerschar führt.Mit Ehrfurcht begegnet der kleine Bim dieser Sphäre aus Disziplin und Anmut.Ein monumentales verschnürtes Standbild wartet auf seine Enthüllung.Zum Vorschein kommt der gigantische Torso einer Venus.Der Sohn in Pfadfinder-Uniform versucht sogleich, dieses Mama-Massiv zu erklimmen.Der versteinerte mütterliche Leib beherbergt im Innern dann Anheimelndes: eine Madonnen-Grotte, wie man sie kitischiger auch nicht in Neapel vorfindet.Ein Pas de deux mit seiner Traumfrau zeigt den Mann klein, bedürftig und abhängig von Frau, die nur als gute, nährende Mutter in Erscheinung tritt.Wo das knäbische Begehren als kollektive männlicher Kuschel-Phantasie auftritt, wird es vollends unerträglich.Der zweite Teil ist ein großes Divertissement, umgewidmet zum Fest für die maman.Da dürfen wieder die Nationalitäten über die Bühne defilieren.Doch es werden nochmals die üblichen Stereotypen bemüht.Das Tschaikowsky-Potpourri geht in Akkordeon-Klänge über.Angekündigt wird schließlich eine Originalchoreographie von Marius Petipa, der große Pas de deux aus "Nußknacker" wird als Glanznummer gegeben.Und erstaunlich ist schon, wie dieser in Ballettgalas abgenudelte Tanz doch eine unverwüstliche Eleganz bewahrt hat.Eine Geste der Demut, eine Verbeugung vor dem Genius Petipa mag Béjart im Sinn gehabt haben.Doch er stellt sich ein Armutszeugnis aus.Wo er sich als direkter Nachfahr des großen Choreographen ausweist, da fällt seine Liebeserklärung an den Tanz (als eine weibliche Kunst) nicht sehr überzeugend aus.Kokettiert wird mit dem Ödipus, Kindheits-Trauma und Sohnes-Phantasmen sollen hier Gestalt annehmen, doch gleichzeitig flüchtet Béjart sich in eine vorgeschobene Naivität, die im Bunde steht mit choreographischer Unbedarftheit.Angetreten ist Maurice Béjart mit dem Anspruch, das Kind in sich ernst zu nehmen, doch er verrät es an das süßliche Sentiment und an den sakral-trivialen Kitsch.

Weitere Vorstellungen: bis zum 18.4.

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