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Krebs und Kino: Halt auf halber Strecke

„50/50“, "Das Leben gehört uns", "Halt auf freier Strecke" und andere mehr: Wie das populäre Kino mit dem – populär gewordenen – Thema Krebs umgeht.

Fünfzig Prozent Überlebenschance gibt die Statistik dem jungen Krebspatienten, wenn er sich der Chemotherapie und Chirurgie überlässt. Die andere, düstere Hälfte der Risikoabschätzung seiner Krankheit versenkt der 27-jährige Protagonist in Jonathan Levines Komödie „50/50 – Freunde fürs (Über)Leben“ in seinem Inneren.

Melodramatischer Tumult ist die Tonlage dieses Films nicht. Das Sterben, zumal unter dem Zeichen empörend ungerechten rettungslosen Verfalls, wird dem Popcornkino-Publikum nicht zugemutet. Auch die Manöver großer Gefühlswallungen, mit denen in „Love Story“, „Zeit der Zärtlichkeit“, „My Life“, „Entscheidung aus Liebe“ oder „Beim Leben meiner Schwester“ und anderen Melodramen dieses Genres Beziehungen ins Reine gebracht werden, veralbert er lieber. Seinen vorhersehbar makabrem Witz bezieht er aus den üblichen Kollisionen, die der prekäre Zustand eines Krebskranken in seiner Umgebung hervorruft: aus dem schrägen, womöglich endlich anarchistischen Ausbruch aus dem Normalen.

„Ich und der Krebs“ nannte der Autor Will Reiser ursprünglich sein Drehbuch, das die unwillkürliche Selbstmobilisierung und fatale Lebenssteigerung in den Mittelpunkt rückte, angeregt durch einen unfreiwilligen Praxistest am eigenen Körper. So zielt „50/50 – Freunde fürs (Über)Leben“ mehr auf den schwarzen Humor, mit dem über das Unvermögen der Mitmenschen gelacht werden kann, die ihre Egozentrik mit Betroffenheitsfloskeln vernebeln.

Adam Lerner, ein junger Radiojournalist, der sein Leben im Griff zu haben glaubt, erfährt beiläufig von seinem Arzt, dass seine Rückenschmerzen von einem tückischen Krebsleiden an der Wirbelsäule herrühren. Im Internet findet er Informationen über seine fünfzigprozentigen Heilungschancen, die ihm der Arzt, eine böse Karikatur des kaltschnäuzigen Gottes in Weiß, vorenthalten hat. Joseph Gordon-Levitt spielt diesen Adam als törichtes Opfer einer Überraschungsattacke, als Identifikationsfigur mit komischem Bonus. Er wägt selbst die Risiken der Chemotherapie und der doch unvermeidlichen Operation ab und nabelt sich von der notorischen Fürsorge seiner Mutter (Anjelica Huston) ab.

Die Krebserkrankung könnte er als sein Alleinstellungsmerkmal betonen, rät ihm sein Freund Kyle (Seth Rogen). Dessen Rolle ist es, sehr passend zu Rogens Image aus Highschool-Klamotten, den sanften überkorrekten Freund ins Nachtleben von Seattle zurückzuholen und ihm Ersatz für die abtrünnige Freundin zu besorgen. Drastisch bricht der idealtypische Buddy mit seinen groben Sex-Klischees jenes andere tiefsitzende Klischee, wonach Krebspatienten durch ein Leben in dauernder Frustration an ihrer Krankheit zumindest mit schuld seien. Lerner lernt leben, er trifft neue Freunde unter den Chemo-Patienten und genießt deren gut sortierte Sammlung an Haschkeksen. Er bringt auch die Chuzpe auf, sich gegen die Patzer der jungen Verhaltenstherapeutin zur Wehr zu setzen. Wahre Liebe kündigt sich an, der Film kann seinen Protagonisten nicht auf halber Strecke in den Tod entlassen. Das Genre fordert ein Happy End.

Krebsgeschichten wie zuletzt von Christoph Schlingensief und Susan Sontag, die vom Krieg gegen einen tückischen Feind, von der Tragödie des uneinholbaren Verlustes erzählen, haben im populären Kino wenig Nachhall. Die Not, die Endlichkeit des Lebens gegen den eigenen Willen zu akzeptieren, erfordert in der ästhetischen Widerspiegelung eine radikale Wucht. Allein Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“, der große Gewinner des Deutschen Filmpreises, konfrontiert den Zuschauer ernsthaft mit diesem Dilemma. Sein Film versucht, die Gefühlsveredelung des Melodramen-Genres möglichst naturalistisch im Milieu normaler Mittelstandsmenschen zu unterlaufen. Die Geschichte eines Familienvaters, der seinem Gehirntumor erliegt, setzt mit der Diagnose des Arztes ein, der – anders als in der entsprechenden Szene in „50/50“ – zu einem langen Monolog anhebt, das umgänglichere Beispiel mangelnder Sensibilität.

„Halt auf freier Strecke“ setzt dem zweideutigen Jubel über die anarchistische Vitalität, die dem Gefühl letztmöglicher Intensität entspringt, die Dramaturgie der kleinen Abschiede von der Verfügbarkeit über den eigenen Körper entgegen. Die unerwarteten Fehlleistungen nehmen zu, der unaufhaltsame Prozess der Wirklichkeitsverschiebungen und Kontrollverluste macht den Mann in seinen besten Jahren zum Kind und schließlich zum morphinbetäubten Bettlägerigen. Das Sterben fällt nicht leicht, es ist radikal anders, als es die Unmasse zirkulierender Bilder von Toten in Krimis suggerieren. Es will gelernt sein – dieses Motiv hat Andreas Dresens Film mit Isabel Coixets absurder Tragikomödie „Mein Leben ohne mich“ (2003) gemeinsam: Hier verschweigt eine krebskranke junge Ehefrau und Mutter ihrer Umgebung die Wahrheit. Und beginnt, Versäumtes nachzuholen und das Leben ihrer Nächsten in übersichtliche Bahnen zu lenken.

Die Kraft, die solche Vitalität zum Tod hin auch den Gesunden, Zerstreuten, Egozentrischen unter die Haut pflanzt (wenn sie sie überhaupt an sich heranlassen), öffnet imaginäre Räume. „Halt auf freier Strecke“ sucht Bilder für die Bereitschaft einer Familie, den Sterbenden ziehen zu lassen, wohin auch immer er seine Geheimnisse mitnimmt. Dresens Film konfrontiert auch mit dem unübersichtlichen Markt diverser Techniken und Therapieangebote, die seelischen Halt in einer Welt versprechen, die den metaphysischen Tröstungen der Religion nicht mehr zugänglich ist – und wirkt dabei zuweilen wie ein Lehrfilm über Schwächen und Stärken der Hospiz-Bewegung.

Filme wie „50/50“ und zuletzt Valérie Donzellis „Das Leben gehört uns“, eine ebenfalls mit eigener Erfahrung begründete Komödie aus Frankreich, setzen dagegen ganz auf die Machbarkeitsprognosen der Medizin. Donzellis Film, die Geschichte des Kampfes gegen den Hirntumor eines anderthalbjährigen Kindes, bannt die Angst vor dem Tod mit einer triumphierenden Freude am diesseitigen Leben. Nach achtjähriger Behandlung und mehreren komplizierten Operationen tanzt der geheilte Junge mit seinen Eltern am Meer, als sei die Familie, so formulierte es die Regisseurin in einem Interview, nach der Durchquerung eines ganzen Kontinents schließlich am Ziel angekommen. Sie und ihr Ko-Autor und Schauspielpartner Jérémie Elkaïm feiern den élan vital in einer wilden Mischung von Stilelementen: Die tröstliche Suggestionskraft des Kinos preisen sie in einer berührend romantischen Hommage an Cinemascope-Träume, Chansons und bunte Farbigkeit.

Wenn man nur fest genug glaubt, dass der Kleine (auch er ein Adam wie der Protagonist in „50/50“) gesund wird, erzeugt diese sportliche Willenskraft eine Dynamik, die die Krankheit besiegen hilft. Auch „Das Leben gehört uns“ wirbelt die Freundes- und Liebesbeziehungen durcheinander. Die Krebskrankheit vereint die Familie, auch wenn das Elternpaar sich voneinander zu entfernen beginnt und am Ende nur als Buddy-Paar verbunden bleibt. Das vom Alltag abgenutzte Mitgefühl dringt an die Oberfläche. Und Solidarität – dieser aus dem entpolitisierten öffentlichen Diskurs so verdrängte Begriff, feiert in den Familienkonstellationen des Zeitgeistkinos Wiederauferstehung – als diffuse Ersatzreligion.

„50/50“ läuft am Donnerstag in sechs Berliner Kinos an. „Das Leben gehört uns“ ist noch auf sechs Leinwänden zu sehen, „Halt auf freier Strecke“ läuft an Einzelterminen in fünf Kinos.

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