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Kultur: Krieg als Experiment und Exempel

Die Woche der Entscheidung – und der gespaltene Westen hat nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera

Der Irakkrieg, inzwischen so gut wie sicher, steht unter dem denkbar schlechtesten Vorzeichen: einer tiefen Spaltung des Westens. Beide Fraktionen im transatlantischen Staatenstreit – die Friedensenthusiasten und die Kriegsgläubigen – haben in einem Anfall diplomatischer Tobsucht jede Menge Tugenden über Bord geworfen, die zum Grundbestand westlicher Politik gehörten: Mäßigung, Geduld, Weitsicht und die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Stattdessen frönen beide Seiten der Selbstüberhebung im Namen einer absoluten Moral.

George W. Bush und Tony Blair betrachten den Krieg gegen Saddam Hussein offenbar nicht bloß als eine strategische Option, sondern als welthistorische, wenn nicht gar metaphysische Mission. Dafür nehmen sie nicht nur die Zerrüttung der Beziehungen zu ihren engsten Partnern, sondern auch das Risiko einer Weltwirtschaftskrise in Kauf. Auf der anderen Seite scheinen Jacques Chirac und Gerhard Schröder in der Rolle als Weltfriedensstifter lieber auf ihre wichtigsten strategischen Interessen, die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und den Erhalt der UN, zu pfeifen, als nur einen Zentimeter ihrer moralischen Überflughöhe preiszugeben.

Was trieb die Führer der westlichen Welt in diese selbstzerstörerische Konfrontation? Was brachte sie dazu, einen (wenn auch sehr wichtigen) regionalen Krisenherd zum Schauplatz eines apokalyptischen Endkampfs um Bestand und Zukunft der zivilisierten Menschheit zu stilisieren? Eine Antwort könnte sein: die Angst.

Aber fürchten Bush und Blair tatsächlich, dass die Welt einem neuen mörderischen Totalitarismus ausgeliefert wäre, bliebe Saddam Hussein auch nur noch einige Monate im Amt? Und zittern Chirac und Schröder tatsächlich vor dem Gedanken an Hunderttausende zivile Tote und daran, dass ein Angriff auf den Irak zahllose neue Terroristen auf den Plan rufen würde? Beider Seiten Ängste sind bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Es gibt jedoch noch eine tieferen Grund für die den Antagonisten gemeinsame Furcht: ihre Ungewissheit über die Gestaltung einer künftigen Weltordnung und die eigene Rolle darin. Vor diesen Unwägbarkeiten flüchten sie in den rigorosen moralischen Maximalismus.

Der amerikanische Publizist Robert Kagan hat in seinem Buch „Macht und Ohnmacht“ den Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Weltsicht charakterisiert: Die Amerikaner seien „vom Mars“, die Europäer „von der Venus“. Während die USA „in der Geschichte“ agierten und wüssten, dass die Anwendung von Gewalt in einer gefährlichen Welt unerlässlich sei, sonnten sich die Europäer in einem illusionären „postmodernen“ Paradies des Ewigen Friedens und glaubten, alle Konflikte seien durch Verhandlungen zu lösen. Doch Kagan simplifiziert damit nicht nur die tatsächlichen Verhältnisse, er verniedlicht ungewollt die wirkliche Rolle der Europäer. Nehmen wir Frankreich: Ist Chirac wirklich der Friedensfreund und Gralshüter der internationalen Rechtsordnung, als der er sich in der gegenwärtigen Weltkrise inszeniert? Noch 1995, Chirac war gerade Staatspräsident geworden, stand Frankreich als der Weltfeind da, wie gegenwärtig wieder einmal die USA; durch Deutschland ging eine Boykottwelle gegen französische Waren und Genussmittel, wie wir sie ähnlich heute in den USA erleben. Trotz internationaler Proteste leistete sich Frankreich überirdische Atomwaffentests im Pazifik. Und vor wenigen Monaten erst schickten die Franzosen Truppen in die Elfenbeinküste, um dem dortigen Bürgerkrieg Einhalt zu gebieten – und um ihre Interessen zu sichern. Frankreich ließ diese Intervention erst nachträglich von der Uno legitimieren.

Auch für den Kosovo-Krieg gab es kein UN-Mandat. Die Befreiung des Kosovo, als humanitäre Tat gefeiert, zog dennoch auch unerwünschte Folgewirkungen nach sich: die Vertreibung des Großteils der serbischen Bevölkerung durch die UCK und die Krise in Mazedonien. Trotzdem haben Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihre Entscheidung für ein militärisches Eingreifen nie bereut – und das mit Recht.

Amerikaner und Europäer sind sich ähnlicher, als sie wahrhaben wollen. Franzosen und Deutsche verfolgen, unter der Nebelwolke der moralischen Emphase, durchaus ihre eigenen ökonomischen und strategischen Interessen im Nahen Osten. Und die USA verbinden ihren Anspruch, die unumschränkte globale Ordnungsmacht zu sein, mit dem hehren Ziel der Pazifizierung und Demokratisierung der ganzen Welt. Dabei scheint das Bewusstsein für das Dilemma der westlichen Demokratien verloren zu gehen. Einerseits will der Westen den Krieg als Mittel der Politik verbannen. Andererseits muss er ihn wieder zunehmend als Instrument einsetzen, um jene Regime, Banden und Bewegungen auszuschalten, die das angestrebte Miteinander in einer friedlichen Staatenordnung unmöglich machen.

Bis zum Kosovo- und zum AfghanistanKrieg gelang es noch, aus der Einsicht in widerstreitende Prinzipien, die gleichwohl nur zusammen gedacht werden können, eine gemeinsamen Politik zu formen. Im gegenwärtigen transatlantischen Konflikt werden sie voneinander abgetrennt und verabsolutiert. Bushs Regierung erhebt die militärische Gewalt zum Königsweg weltpolitischer Veränderungen und verliert dabei aus dem Blick, dass Krieg allenfalls der Beginn einer Lösung, niemals aber die Lösung selbst sein kann. Und Europa versucht, den internationalen Status Quo so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, klammert sich dabei an die Geltungskraft des alten Völkerrechts – und will nicht wahrhaben, dass dessen Instrumentarien in einer Situation des weltweiten Zerfalls staatlicher Strukturen immer weniger greifen.

Ganz Europa? Nein, der Kontinent ist ja in sich gespalten. Die jungen osteuropäischen Demokratien treibt vor allem die Furcht vor einem neu erstarkenden Russland um, sie sehen in Amerika die Schutzmacht, die ihre Integration in ein demokratisches Europa garantieren kann. Die Südeuropäer wiederum fürchten aufgrund ihrer geografischen Lage, von Raketen mit Massenvernichtungswaffen aus dem arabischen Raum als erste getroffen zu werden und schätzen die Gefahr, die von Saddam oder anderen Despoten ausgeht, wesentlich höher ein als Franzosen und Deutsche.

Mittlerweile berauschen sich die amerikanische Führung und ihre Vordenker an der militärischen Überlegenheit der USA und leiten daraus die Vorstellung ab, die Welt werde unter ihrer erzieherischen Aufsicht zum Besten gedeihen. Aber es dürfte sich auch in den USA bald wieder die Einsicht durchsetzen, dass eine hoch komplexe Gemengelage nicht von einem einzigen Zentrum aus gesteuert werden kann. Innerhalb der Bush-Administration lassen sich schon mindestens zwei Strömungen ausmachen: Die „Demokratisierer“ setzen auf eine Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse im gesamten Nahen Osten; die „Realisten“ dagegen wollen sich mit der Rolle der USA als mobile Weltpolizei begnügen. Europa dagegen hat sich der Aufgabe einer globalen Neuordnung noch nicht gestellt und setzt unverdrossen auf Eindämmung – und verdrängt zum Beispiel, dass der Balkankrieg nur eskalierte, weil Europa seiner Ausbreitung zu lange tatenlos zusah.

Fest steht wohl, dass eine künftige Weltordnung auch von Aporien gekennzeichnet sein wird, wie wir sie aus dem Innenleben der offenen Gesellschaften des Westens kennen. Fundamentalistischer Extremismus und politisches Gangstertum sind große Bedrohungen, aber nur eine Seite der Medaille. Weltweit nimmt das Bedürfnis zu, an den wirtschaftlichen und ideellen Errungenschaften der Globalisierung teilhaben zu dürfen. Der Wunsch nach demokratischen Rechten und nach der Beseitigung anachronistischer Despotien wächst auch im arabischen Raum. Aber er drückt sich keineswegs immer in prowestlichen Haltungen aus. Das Neben- und Durcheinander von scheinbar Unvereinbarem wird das Charakteristikum der Neuen Welt(un-)ordnung sein. Die Suche nach neuen Rechtsnormen, von denen sie zusammengehalten werden kann, geht mit dem Irakangriff in eine neue, gefährliche Phase. Nach der Methode: Trial and Error.

Richard Herzinger

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