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Kultur: Krieg essen Angst auf

Der 11. September hat die Psyche Amerikas verändert. Doch wie konnten die Ereignisse eine derart hysterische Reaktion auslösen?

Eine der beliebtesten Sendungen im amerikanischen Fernsehen heißt „Fear Factor“. Die Kandidaten müssen Würmer essen, auf Hochhäusersimsen balancieren, von einem 30-Meter-Kran in einen Swimmingpool springen oder sich aus Unterwasserkäfigen befreien. Wer zu viel Angst hat, scheidet aus. Der Mutigste gewinnt. Oft schreien die Kandidaten, manchmal zittern sie oder übergeben sich. Je heftiger ihre Reaktionen, desto größer das Gaudium für die Zuschauer. Angst, die man ahnen kann, ohne sie haben zu müssen, verleiht ein wohliges Gruselgefühl. Hinzu kommt die Schadenfreude. Auf diesen beiden Effekten beruht der Erfolg der Serie.

Amerikaner haben ein seltsames Verhältnis zu Gefahren. Einerseits sind sie wagemutig bis zur Tollkühnheit. Sie fliegen bis zum Mond, treffen sich zum Bungeejumping, laufen freizügig mit Schießwaffen herum, tragen beim Fahrradfahren keine Helme, essen hemmungslos genmanipulierte Nahrung und ziehen regelmäßig in den Krieg.

Andererseits schlottern ihnen die Beine bei dem kleinsten Indiz für eine Gefahr. Mit riesigen Autos, halb Jeep, halb Panzer, fahren sie hinter getönten Scheiben in ihre bewachten Wohnsiedlungen. In jeder Einkaufspassage patrouillieren stämmige Sicherheitskräfte. Keine andere Nation konsumiert mehr Antidepressiva. Wenn neue Krankheiten auftauchen, bricht Hysterie aus.

Am 11. September 2001 ist die ohnehin leicht labile Psyche der Amerikaner radikal aus dem Gleichgewicht geraten. Bis heute halten die Folgen an. Das öffentliche Leben wird beherrscht von Angst. Meist ist sie diffus, selten konkret. Ob Afghanistan- oder Irak-Krieg, die Einschränkung der Bürgerrechte, der Aufbau einer riesigen Heimatschutzbehörde, das Haushaltsdefizit, der transatlantische Streit: Die Reaktionen auf die Terroranschläge dominieren nach wie vor die amerikanische Politik. Auf allen Nachrichtensendern wird täglich der aktuelle Stand der Bedrohung eingeblendet.

Kein Albtraum scheint mehr zu bizarr, um in den Medien nicht als reale Möglichkeit beleuchtet zu werden. Moderatoren, besorgte Bürger, Experten und Politiker diskutieren inbrünstig sämtliche Was-passiert-wenn-Szenarien. Ein Flugzeug stürzt in ein Atomkraftwerk, das Grundwasser einer Großstadt wird vergiftet, eine „schmutzige Bombe“ detoniert in einer Geschäftsstraße. Die Nation scheint wie betrunken vom Horror. Zwei honorige think tanks in Washington, das American Enterprise Institute und die Brookings Institution, haben jetzt gemeinsam mit Kongressabgeordneten beider Parteien eine Studie veröffentlicht. Sie liest sich wie eine Mischung aus Hollywood und Politikseminar.

In der Nähe vom Kapitol wird eine Atombombe gezündet. Der Präsident, der Vizepräsident und die meisten Abgeordneten kommen ums Leben. Wie lässt sich die Kontinuität der politischen Geschäfte gewährleisten?

Mit rationaler Risikoabwägung hat die Terror-Angst-Epidemie kaum etwas zu tun. Die Chancen, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, stehen für den Durchschnittsamerikaner bei 1 zu 7000. Die Wahrscheinlichkeit, das Opfer eines gewöhnlichen Mordes zu werden, liegt bei 1 zu 17000. Im Vergleich dazu liegt die Terror-Gefahr im Infinitesimalbereich. Auch insgesamt sind die Lebensrisiken der Amerikaner dramatisch gesunken. Ihre Lebenserwartung ist heute sechzig Prozent höher als vor hundert Jahren. Viele Krankheiten, die einst tödlich waren, lassen sich behandeln. Naturkatastrophen wie Waldbrände, Wirbelstürme oder Überschwemmungen fordern heute weniger Opfer als früher. Trotzdem wuchern die Ängste. Selbst das nüchterne „Wall Street Journal“ wundert sich. „Warum glauben die Amerikaner bloß, dass hinter jeder Ecke eine Gefahr lauert?“, hieß es Ende April in einer Titelgeschichte.

Für eine wachsende Zahl liberaler Kommentatoren ist die Antwort klar: Die Angst wird gezielt geschürt. Sie nützt der Bush-Regierung. Ohne Angst kein Krieg, kein Heimatschutzministerium, keine Einschränkung der Bürgerrechte. Die „Manipulation der Angst“, schreibt Stanley Hoffmann in der „New York Review of Books“, habe die US-Regierung zu einer „brillanten Technik“ entwickelt, um ihre Befugnisse zu erweitern. Die Terroranschläge seien zu einer allgemeinen Kriegserklärung gegen „das Böse“ hochgeschraubt worden. Krieg bedeutet Ausnahmesituation. Drastische Maßnahmen in Ausnahmesituationen bedürfen keiner Rechtfertigung. Wer Angst sät, erntet Macht.

Rückblende: „Herr Präsident, die einzige Möglichkeit, die Gelder bewilligt zu bekommen, ist, eine Rede zu halten und die Nation bis ins Mark zu ängstigen.“ Das war der Rat, den im Jahre 1947 US-Präsident Harry Truman von dem republikanischen Senator Arthur Vandenberg erhielt. Damals ging es um die Frage, wie viel Geld der Kongress bewilligt, um befreundeten europäischen Staaten in ihrem Kampf gegen den Kommunismus beizustehen. Genau wie im Kalten Krieg, schreibt ein Kommentator der „Washington Post“, sei die Angst auch heute wieder „ein mächtiges politisches Motivationsinstrument“. In vielen seiner Reden, die George W. Bush vor dem Irak-Krieg hielt, schien er den Rat von Senator Vandenberg zu befolgen. Er ängstigte die Nation bis ins Mark.

„Chemische Stoffe, tödliche Viren und im Verborgenen arbeitende Terror-Netzwerke lassen sich niemals eindämmen“, sagte Bush im Februar vor einer Gruppe christlicher Radio-Moderatoren. „Ganz geheim, ohne Fingerabdrücke, kann Saddam Hussein seine verstecken Waffen an Terroristen weiterleiten. Saddam Hussein ist eine Gefahr. Er ist eine Gefahr für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Anders als im Kalten Krieg der Kommunismus, werden heute die Taliban, Osama bin Laden und Saddam Hussein nicht einmal von einer Minderheit in den USA verteidigt. Das macht es schwer, das regierungsamtliche Schüren von Ängsten zu kritisieren, ohne in falschen Verdacht zu geraten. „Wer mit Angst arbeitet, ist immer im Vorteil“, sagt der Psychologe Paul Slovic von der University of Oregon: „Es ist leichter zu ängstigen, als zu beruhigen. Und wir vertrauen eher jenen Menschen, die uns vor Gefahren warnen, als jenen, die sie uns ausreden wollen.“

Angst steckt an. Angst fasziniert. Dieses Gesetz befolgen auch die Medien. Sich Katastrophen auszumalen, ist spannender, als über trockene Gesetzesinitiativen zu berichten. Der „Fear Factor“ lässt auch in den politischen Magazinen die Einschaltquoten nach oben schnellen. Der Zuschauer weiß nicht, ob Saddam Hussein und Osama bin Laden zusammengearbeitet haben. Aber der Unterhaltungswert einer Sendung, die von dieser These ausgeht und ihre Konsequenzen beschreibt, ist allemal höher, als wenn irgendwelche Experten zusammensitzen und diese Behauptung bezweifeln.

Angst und Wut waren die beiden wichtigsten Gefühle der Amerikaner nach dem 11. September. Das Urvertrauen, auf ihrem eigenen Kontinent sicher zu sein, wurde zerstört. Ihre von Angst begleitete Wut trieb sie zur Aktion. Vielleicht sind Europäer, was den Terrorismus betrifft, abgeklärter als Amerikaner, vielleicht fatalistischer. „Wahrscheinlich wird der Terrorismus, ähnlich wie die Armut, für immer unser Leben begleiten“, prophezeit selbst der britische „Economist“, der der Bush-Regierung gewogen ist. Doch die Annahme, dass es Lebensbereiche geben könnte, die sich der Planung und Gestaltung entziehen, ist in Amerika kaum verbreitet. Begriffe wie „Zufall“, „Schicksal“ oder „Unglück“ werden nur ungern akzeptiert.

Eine Mehrheit der Amerikaner meint, der Irak-Krieg sei richtig gewesen, auch wenn dort keine Massenvernichtungswaffen gefunden werden sollten. Die Gründe dafür sind weniger moralischer Art – ein Volk befreien – noch strategischer Natur – den Nahen Osten demokratisieren. Sondern es ist in erster Linie das befriedigende Gefühl, eine Schmach vergolten zu haben. „The national story line has changed from trauma to triumph“, bilanziert das „Wall Street Journal“. Auch Thomas Friedman, einer der klügsten Kommentatoren der „New York Times“, meint, der „wahre Grund“ dieses Krieges sei gewesen, dass „Amerika nach dem 11. September irgend jemanden in der arabisch-muslimischen Welt treffen musste“. Afghanistan sei nicht genug gewesen. Deshalb musste es anschließend Saddam treffen, „weil er es verdient hatte, und weil er sich im Herzen der arabisch-muslimischen Welt befand“.

Angst und Wut brauchen Ventile. Die Kandidaten in „Fear Factor“ schreien, zittern oder übergeben sich, während sie die Aufgaben bewältigen. Das reichte den Amerikanern nach dem 11. September nicht. Sie wollten Taten sehen, möglichst spektakuläre. Sicherer als vor zwanzig Monaten fühlen sich viele von ihnen heute nicht, trotz Kriegen und Heimatschutz. Doch das stört sie kaum. Ihre Regierung hat gehandelt. Sie konnten Dampf ablassen. Das zählt am meisten.

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