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Kritik: Rote Nasen

Lars Brandts Roman „Alles Zirkus“ erzählt von der Gleichzeitigkeit privater und politischer Krisen und verhilft dabei einer seltenen literarischen Gestalt zum Auftritt: dem Clown.

Von Gregor Dotzauer

Die Welt, um gleich aufs große Ganze zu gehen, lässt sich unter anderem als Affenstall, Haifischbecken oder Riesenzirkus beschreiben. Schließlich übt sie sich abwechselnd in unfreiwilliger Komik, brutalem Darwinismus oder ergötzlich inszenierter Theatralik, vielleicht sogar in allem zugleich – was die einzelnen Metaphern, die ohnehin nicht gerade deskriptionsscharf sind, erst recht ins Ungefähre verschwimmen lässt. Wer wie Lars Brandt die Gegenwart unter dem Romantitel „Alles Zirkus“ fassen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass der gute alte Wanderzirkus längst durch Hightech-Akrobatik Konkurrenz bekommen hat. Auch deshalb verirren sich, nachdem die Commedia dell’arte mit ihren Arlecchini und Pierrots nur noch kunsthistorischen Artenschutz genießt, Clowns als Spaßmacher wesentlich öfter in die Krankenhäuser als in die zeitgenössische Literatur: Sie taugen im Grunde nur noch zum Zitieren eines Archetypus.

Legendär Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ (1963), in denen die Wirtschaftswunderrepublik ihren gutwilligen Bürger Hans Schnier zu Fall bringt. Epochal der mordende Clown Pennywise in Stephen Kings Horrorroman „Es“ (1986), dem zahllose fiktive (und mindestens ein echter) Serienkiller in der Maske des traurig-fröhlichen Gesellen folgten. Schillernd Vladimir Nabokovs letzter, von Brandt selbst ins Feld geführter Roman „Sieh doch die Harlekins!“ (1974), eine Kryptoautobiografie, deren Protagonist Lebenswirklichkeit und literarische Erfindung nicht mehr auseinanderhalten kann. Wie aber bringt man 2012 die rote Pappnase in die Manege zurück?

Brandt erzählt von einer mit den Ereignissen des Jahres 2009 markierten Universalkrise, deren Anzeichen in alle Ritzen kriechen. Es ist eine Geschichte von der Erschütterung der Märkte und dem Niedergang einer Gesellschaft, in der Politik nur noch Marketing ist. Vor allem aber widmet er sich der Krise des kinderlosen Langzeitpaares Walter Tomm und Trixi Ghedina, dem es gelingt, ein Nichts an ehelichen Differenzen in ein ausgewachsenes Zerwürfnis zu verwandeln.

Walter, Kreativdirektor einer rheinischen Werbeagentur, betrachtet seinen Beruf mit dem Verdacht leiser Unanständigkeit. Dagegen versucht die leicht luxurierende Trixi, die ihren Gatten gerne an die Ideale seiner Jugend erinnert, kompromisslos ihrer kreativen Berufung als Filmemacherin zu folgen, muss aber schnell entdecken, dass in Fernsehredaktionen alles andere als Kompromisslosigkeit gefragt ist.

Mit wenig Fortune versucht sie, eine Dokumentation über Richard Lindner (1901-1978) durchzusetzen, einen in Nürnberg aufgewachsenen und nach der Flucht vor den Nazis in New York zu Ruhm gelangten Maler, der einer ins Surrealistische gewendeten Neuen Sachlichkeit huldigte, inspiriert von Otto Dix, nur sehr viel kühler, und im kritisch-satirischen, ja narrativen Gestus zugleich mehrere Groteskheitsgrade entfernt von den Pop-Art-Künstlern, mit denen zusammen er gelegentlich ausgestellt wurde.

In seinen Alpträumen sieht sich Walter als Clown Dirk Amy Mohnerlieser. Dieser kursiv gedruckte Erzählstrang tritt an die Oberfläche seines Wachbewusstseins, als er per Mail aufgefordert wird, sich mit Clownsbedarf einzudecken. Die Nacht verschlingt den Tag, der Traum die Wirklichkeit, und Walters Skrupel vergegenständlichen sich ausgerechnet in Gestalt eines Fremdenlegionärs namens René Schach, der seine eigene Identität einst mit Freuden am Spind abgegeben hat. Aus dem Dschungel von Französisch-Guyana zurückgekehrt, nistet er sich bei dem Krisenpaar ein und fungiert als seelischer Brandbeschleuniger.

Das alles trägt die Züge einer stillen Farce und hat durchaus seine vergnüglichen Seiten. Brandt schafft eine Versuchsanordnung, deren Figuren er mit kühlem Spott dabei beobachtet, wie sie auf- und miteinander reagieren. Das durchgängige Präsens steigert die ironische Nüchternheit eines Blicks, der demjenigen Lindners in vielem verwandt ist.

Wie es Menschen auf allen Ebenen der Versorgtheit und Unversorgtheit gelingt, in ein Loch zu fallen, entwirft Brandt in prägnanten Szenen. Private und politisch-wirtschaftliche Krisenerfahrung werden aber nur parallel geführt, ohne in ihrer möglichen Durchdringung untersucht zu werden. So bleiben Walters und Trixis Probleme Luxusprobleme, der Börsenaufruhr taugt nur zur atmosphärischen Hintergrundmusik, und der Zeitindex kann kaum verbergen, dass Brandt eigentlich das ewige Bilanzdrama eines fortgeschrittenen Lebensalters erzählt.

Am problematischsten aber ist das nächtliche Clowns-Phantasma. Es dient allein dazu, Walter für seine Dysfunktionalität am Tage zu strafen. Das Alter Ego schafft keine Perspektive auf das Ego, die es erlauben würde, den gesellschaftlichen Anforderungen ein Schnippchen zu schlagen. Anders als die character clowns von Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Harold Lloyd, auch anders als Becketts Clownsfiguren, entwickelt Mohnerlieser keine Persönlichkeit.

Lars Brandt, 1951 in Berlin geboren und heute in Bonn zu Hause, ist der mittlere von drei Söhnen Willy Brandts aus der Ehe mit Rut Brandt, worüber er, nach vielen Jahren als bildender Künstler, in seinem literarischen Debüt „Andenken“ (2006) wunderbar genau und diskret Auskunft gab. „Andenken“ war kein historisches Enthüllungsbuch, sondern ein später Nachzügler jener Väterbücher, die Anfang der achtziger Jahre in Peter Härtlings „Nachgetragener Liebe“ oder Christoph Meckels „Suchbild“ ihren stärksten Ausdruck fanden. „Gold und Silber“ (2008) wiederum war ein Künstler- und Liebesroman, der sich an einer ähnlichen Komik versuchte wie nun „Alles Zirkus“.

Aber soll tatsächlich alles Zirkus sein? Diagnostisch ist das so beliebig wie im totalisierenden Anspruch verwegen. An der Last dieser erschöpften Metapher trägt auch der groteske Charme dieses Romans allzu schwer.

Lars Brandt:

Alles Zirkus. Roman. Hanser Verlag,

München 2012.

224 Seiten, 18,90 €.

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