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Kultur: Kuckucksuhr mit Muezzin

Eine Karlsruher Ausstellung zeigt die Verwestlichung des Orients

Man mag von Thilo Sarrazins Thesen halten, was man will – dass er einer weit verbreiteten Angst vor Überfremdung Ausdruck verleiht, dürfte unbestreitbar sein: Wir (wer immer das ist) wollen nicht so werden wie die (wer immer das ist). Dieses Unbehagen hat Jörg Schönbohm vor Jahren auf die Formel gebracht, in manchen Bezirken von Berlin fühle man sich nicht mehr in Deutschland.

Früher war das anders. Zweihundert Jahre lang konnte halb Europa von Genüssen des Maghrebs, arabeskem Dekor und Sinneslust im Harem gar nicht genug bekommen. Von türkischen Hochzeiten und Heerschauen unter August dem Starken über Goethes West-Östlichen Diwan bis zu romantischen Ölgemälden mit Motiven aus dem Morgenland schwelgten die höheren Stände in Orient-Seligkeit. Die Kultur der Muselmanen erschien als emotionaler Gegenentwurf zur eigenen aufgeklärten und industrialisierten Gegenwart. Den tröstlichen Fantasien gab man sich desto stärker hin, je mehr der reale Raum zwischen Marokko und Indien von Europas Truppen kontrolliert und kolonisiert wurde. Diese Geisteshaltung haben Edward Said und andere scharf als „Orientalismus“ kritisiert – die Debatte darüber dauert immer noch an.

Dagegen wird im Westen bis heute kaum wahrgenommen, dass sich zur gleichen Zeit im Orient eine Gegenbewegung formierte. Als Reaktion auf demütigende Niederlagen: Wenn die Ungläubigen der islamischen Welt überall zusetzen, sind sie ihr offenbar militärisch, technisch und gesellschaftlich überlegen. Die Folgerung konnte nur lauten: Wir wollen genauso werden wie die. Dem Phänomen des „Okzidentalismus“ widmet nun das Badische Landesmuseum eine kluge und spannende Ausstellung. Nicht etwa, weil hier erlesene Kostbarkeiten gezeigt werden. Im Gegenteil: Zu sehen sind vor allem gewöhnliche Dinge wie Kleidung, Hausrat und Wandschmuck. Doch gerade diese Fundstücke belegen eindringlich, wie stark europäische Wahrnehmungsmuster und Gestaltungsprinzipien den Alltag islamischer Länder prägen – bis heute.

Damit ist keineswegs der Import westlicher Konsumgüter gemeint. Es geht nicht um Fellachen mit Handys oder Scheichs in Luxuskarossen. Sondern um Bildaufbau, Wohnhausarchitektur und Teppichmotive: Überall machen sich teils Jahrhunderte alte europäische Einflüsse bemerkbar. Nicht der Orient erscheint als eine gegen außen abgeschottete Kultur, sondern der Westen.

Aufgrund der Abstammung von Kuratorin Schoole Mostafawy konzentriert sich die Ausstellung vor allem auf den Iran – mit ein paar Abstechern in die Türkei, nach Nordafrika und Mittelasien. Doch was sie aus iranischen Palästen und Wohnstuben zutage fördert, ist aufregend genug. Zumal die Schia kein strenges Bilderverbot kennt: Bonbonbunte Darstellungen schiitischer Heiliger wurden und werden nach dem Vorbild italienischer Renaissance-Meister komponiert. Poster mit zuckersüßen Idyllen von Mutterglück entsprechen bis ins Detail dem Bildtypus der „Madonna im Rosengarten“. Und ein in Teheran beliebtes Porträt des Propheten Mohammed geht auf die Fotografie eines jungen Tunesiers zurück. Die Deutschen Lehnert & Landrock lichteten ihn 1905 in ihrem Studio in Tunis ab und verkauften sein Konterfei als Postkarte in hoher Auflage. Perspektiven, Ornamente und Landschafts-Fragmente europäischer Herkunft finden sich bereits auf persischen Bildteppichen und Lackmalerei-Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert. Ebenso elsässische Stickmuster auf Kleidern aus Palästina, französische Farben auf indischen Spielkarten oder ein treudeutsch wirkender Humpen, der im Iran getöpfert wurde. Diese Amalgamierung der Formen wirkt weiter. In Afghanistan wurden ab 1990 „war rugs“ geknüpft – Teppiche, die Panzer und Bomber zeigen.

Dass die Eliten dieser Länder sich im 20. Jahrhundert europäisch kleideten und einrichteten, verwundert wenig – das war andernorts genauso. Bemerkenswert ist vielmehr, wie tief die optische Verwestlichung auch in die Lebenswelt breiter Schichten eingesickert ist, bis hin zum Design von Massenwaren wie Getränkeflaschen oder Zigarettenpackungen. Die Allgegenwart des Fremden muss allmählich zur Selbst-Entfremdung führen. Diese Artefakte machen anschaulich, wogegen sich der Islamismus so militant auflehnt.

Leider bleiben in Karlsruhe aus Budget- und Platzgründen viele Aspekte ausgespart. Die Europäisierung des Osmanischen Reiches – angefangen vom „türkischen Baroc“ im 18. über halbherzige Verwaltungs- und Armee-Reformen im 19. bis zu Atatürks Kulturrevolution im 20. Jahrhundert – kommt kaum vor. Auch die Anglisierung Ägyptens und Französisierung Algeriens fehlen. Dennoch macht die Ausstellung deutlich: Das Projekt „Europa einholen“ ist weitgehend gescheitert, die Beharrungskräfte in Staat und Gesellschaft waren stärker.

Mit dieser Einsicht lässt sich die erregte Diskussion um Sarrazins Thesen gelassener verfolgen. Man sollte ihm zur Beruhigung ein Kunstwerk von Via Lewandowsky schenken, das am Eingang der Ausstellung hängt: Eine Kuckucksuhr, aus der zur vollen Stunde kein Vögelchen, sondern ein Muezzin ruft. In den Basaren von Istanbul bis Isfahan werden Schwarzwälder Kuckucksuhren verkauft.

Badisches Landesmuseum, Karlsruhe, bis 9. November; Katalog 29,95 €.

Oliver Heilwagen

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