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Lieber länger: „Quasi Objects: My Room is a Fish Bowl, AC/DC Snakes, Happy Ending, Il Tempo del Postino, Opalescent acrylic glass podium, Disklavier Piano“ (2014), Parrenos große Installation in der Galerie Schipper.

© Andrea Rossetti

Künstler Philippe Parreno stellt in Berlin aus: Philosophierende Delfine

Fantastisch aufwändig, großartig vertrackt: Der renommierte französische Künstler Philippe Parreno stellt in der Galerie Esther Schipper und im Schinkel-Pavillon aus.

Philippe Parreno erfährt in Deutschland nicht die Anerkennung, die ihm gebührt. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass der Künstler, dem in Paris die – nach Quadratmetern – größte Ausstellung, die je einem lebenden Künstler ausgerichtet wurde; dass der Künstler, der diese Ausstellung im Palais de Tokyo quasi selbst kuratieren durfte; dass der Künstler, der in Moskau, London, New York, Basel und Zürich ausgestellt hat; dass dieser Künstler von Weltrang in Deutschland bislang noch keine Einzelschau in einem Museum hatte? Die Berliner Galerie Esther Schipper zeigt Parreno dafür zum siebten Mal. Den fantastischen Aufwand, den das bedeutet, sieht der Besucher dem fertigen Aufbau nicht an. Soll er natürlich auch nicht.

Drei Stunden vor der Vernissage. Zu sehen sind leere Galeriewände, ja. Aber sie wurden eigens für die Ausstellung hochgezogen. Jetzt noch offene Türen in diesen Wänden geben den Blick auf etliche armdicke Kabelbündel frei. An die 30 Menschen wuseln auf konzentrierte Weise geschäftig durch die Galerieräume – während eine etwa gleich große Zahl mit Gas gefüllter bunter Luftballon-Fische und -Delphine darüber schwebend die Ruhe weg hat.

In der Mitte steht Nicolas Becker und hat, als einziger neben den schwebenden Fischen, die Ruhe weg. Er ist als Sound Designer und Foley Artist, als Geräuschemacher – etwa für den sieben Oscars schweren Film „Gravity“ – ein in Hollywood gefragter Mann. Ein Drittel seiner Arbeitszeit gehört Parreno. Kennengelernt haben sie sich vor Jahren bei der Arbeit an „Zidane“. 17 Kameras, darunter zwei mit dem weltweit größten Zoom, filmten 2006 den Fußballspieler während einer Partie für seinen Verein. Filmten ausschließlich ihn, filmten jede seiner Bewegungen.

Bewegung war auch im Schinkel-Pavillon

Bewegung war auch am Abend vor der Vernissage bei Esther Schipper im Schinkel-Pavillon. „How Can We Tell the Dancers from the Dance“ heißt die Installation, die Parreno dort zeitgleich zeigt. Unter der Kuppel eine runde, weiße Tanzfläche. Subwoofer unter der Fläche und oben an die Raumleuchten montierte Lautsprecher geben Schritte und andere Bewegungslaute von Choreografien Merce Cunninghams wieder. Am Eröffnungsabend weitgehend übertönt vom Small-Talk- Summen der Gäste. Eine Mitarbeiterin ist damit beschäftigt, die Gäste zu bewegen und so den Weg frei zu machen für eine langsam um die Tanzfläche rotierende Wand.

Die Installation (sie soll den Einfluss Marcel Duchamps auf Cunningham reflektieren) wurde an die örtlichen Verhältnisse des Schinkel-Pavillons angepasst. Es ist die neueste Version einer schon mehrfach gezeigten Arbeit. Das ist typisch für Parreno. Von Solitären wie „Zidane“ abgesehen, genügen ihm für seine verkopfte, verweisgesättigte Hyper-hyper-meta-Konzeptkunst einige wenige, immer wieder neu arrangierte Versatzstücke. Das gilt auch für die „quasi-objects“ in Esther Schippers Galerie.

Philippe Parreno: Man nennt ihn "Big Data"

Philippe Parreno, 1964 in Oran geboren, mit den Eltern bald nach Frankreich gezogen und nie wieder nach Algerien zurückgekehrt, empfängt dort zum Gespräch. Zwei Stunden vor der Vernissage sitzt er in einem Raum, in dem ein Tapiovaara-Tisch und zwei Aalto-Hocker die einzigen Möbel sind. Die Leere hier, die emsige Gemeinschaft seiner vielen Helfer zuvor, jetzt der rasierte Schädel auf dem drahtigen Körper des passionierten Rennradfahrers: Parrenos Erscheinung hat etwas mönchisch Asketisches. Er sieht aber auch ein bisschen aus wie Michel Foucault.

Nicolas Becker nennt Parreno gerne „Big Data“, hatte er zuvor verraten. Parreno lese 40 Bücher in der Woche. Nicht Foucault, Parreno führt als philosophische Referenzen seiner Kunst lieber Michel Serres und Bruno Latour an. Spricht leise, antwortet auf jede Frage minutenlang, fokussiert dabei einen für ihn allein sichtbaren Punkt auf der Tischplatte. Fragen, die nicht auf seine Kunst, sondern den Kunstmarkt und seine Rolle als Akteur auf diesem Markt abzielen – es war der zweite Tag nach der Versteigerung der nordrhein-westfälischen Bilder von Andy Warhol – irritieren ihn. Es ist sein drittes von vier Interviews an diesem Tag in Deutschland.

Parrenos „quasi-objects“ heißen also so wegen Serres und Latour, die die Subjekt-Objekt-Relation neu bestimmen, die Welt nicht länger zweigeteilt sehen wollten in einen menschlichen Bereich der sozialen Konstrukte und eine externe Welt der faktischen Objekte. Kommunikationstheorie. Akteur-Netzwerk-Theorie. Die „quasi-objects“ sind, unter anderen: „AC/DC Snakes“ – Gebilde aus Stecker- Adaptern und Nachtlichtern, die ein bisschen nach Lego und Star-Wars-Spielzeug aussehen. Parreno hatte sie schon vor 20 Jahren in seinem Repertoire. Eine „Marquee (cluster)“ getaufte Lichtorgel, bestehend aus 132 Glühbirnen, 56 Neonröhren, 20 Transformatoren und 8 Schallwandlern. In einer Ecke ein schmuddeliger Schneehaufen, „Snow Drift“ aus Kunstschnee, Diamantenpulver und Ton.

Schlangen, Fische, Lupen und Leuchten

Herz und Prunkstück der Ausstellung aber ist jene Installation, deren Titel wie eine Inventarliste klingt: „Quasi Objects: My Room is a Fish Bowl, AC/DC Snakes, Happy Ending, Il Tempo del Postino, Opalescent acrylic glass podium, Disklavier Piano“. Schlangen, Fische, außerdem eine mannshohe Lupe und eine Leuchte von Arne Jacobsen. Der Flügel spielt selbsttätig zwei Passagen aus Franz Liszt’s „Nuages gris“. Die beleuchteten „quasi-objects“, auch die der anderen Installationen, sind mit der Musik über zwei mathematische Algorithmen, zelluläre Automaten – „Conway's Game of life“ von John Conway und „Brian’s Brain“ von Brian Silverman – synchronisiert. Wegen Serres und Latour. Die komplexe Technik hat Becker im Griff. Die intellektuelle Komplexität könnte eine Erklärung dafür sein, warum es mit der großen Museumsschau in Deutschland bislang nicht geklappt hat.

Diese Ausstellung ist eine Galerieausstellung und Parreno ein Akteur auf dem Kunstmarkt. Was also kostet Philippe Parreno? Am Eröffnungstag wusste das niemand zu sagen. Nach einigen Tagen war von den freundlichen Helfern immerhin folgende Auskunft zu bekommen: „Die Preisspanne der gezeigten Arbeiten beträgt 10 000 bis 400 000 Euro.“

Esther Schipper, Schöneberger Ufer 65.; bis 15. 1., Di–Sa 11–18 Uhr / Schinkel-Pavillon, Oberwallst. 1; bis 21. 12., Do/Fr 14–18 Uhr, Sa/So 12–16 Uhr

Jens Müller

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