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Der Dichter Gerhard Falkner in der Künstlerkolonie Tarabya.

© Jim Rakete

Künstlerkolonie Tarabya: Ein Traum, eine Brücke

Istanbul zieht Künstler an, lädt ein zum Austausch. Hier berühren sich Geschichte und Zukunft. Ein Besuch in Tarabya, der neu gegründeten deutschen Kulturakademie am Bosporus.

Die weißen Häuser am Wasser bergen Sehnsucht, sie wecken Erinnerungen. Unnötig zu erwähnen, dass der Himmel hier auch im Winter an den meisten Tagen ein Blau verströmt, das die Sinne betäubt, zumal bei Nordeuropäern. Ein Blau, das sich an besonders strahlenden Tagen in die Farbe des Wassers mischt.

Der Dichter Gerhard Falkner steht am Fenster und beobachtet die Schiffe. Riesige Frachtmonster ziehen dahin und daher in endloser Parade. Falkner geht zu seinem Laptop, wo er die Internetseite marinetraffic.com aufgerufen hat. Dort kann er die Identität der Schiffe ablesen und ihren Weg verfolgen durch den Bosporus zum Schwarzen Meer und in der anderen Richtung, vom Schwarzen Meer zum Marmarameer. Auf dem Fensterbrett steht ein Fernglas.

Dieser Blick! Diese Perspektive! Falkner schwärmt. Über Wochen hat er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, um an einem neuen Langgedicht zu arbeiten. Und dann und wann hat er die Klausur unterbrochen und die Umgebung seines vorübergehenden Domizils erkundet, zu Fuß. Bald fünf Stunden ist er dorthin gegangen, wo der Bosporus ins Schwarze Meer mündet, bald sechs Stunden nach Istanbul, zur Galatabrücke. Dazwischen liegt Tarabya, die deutsche Kulturakademie. Im September 2012 sind dort die ersten Stipendiaten eingezogen. Falkner gehört zu den Pionieren an diesem Ort, der zumindest bei einem kurzen Besuch der Vorstellung eines Paradieses recht nahekommt, mit dem Park, mit der Ruhe, die über Tarabya liegt, mit der Nähe zu der umwerfenden Metropole Istanbul.

Ein Schriftsteller kann zwei Dinge falsch machen. Er schaut von seinem Schreibtisch auf. Oder er schaut nicht von seinem Schreibtisch auf. Hat einmal ein berühmter Schriftsteller gesagt.

Paradies, das heißt ja nicht Hängematte unter Palmen und Nichtstun. Vielmehr lockt die Möglichkeit des ungestörten Arbeitens über drei bis zehn Monate, mit einer monatlichen Apanage von 2500 Euro. Der Berliner Poet, dessen Zeit in Tarabya sich dem Ende zuneigt, wird etwas hinterlassen und mitnehmen. Das in Tarabya entstandene Werk, der Nachfolger seiner Berlin-Elegien „Gegensprechstadt – ground zero“ und der im letzten Jahr veröffentlichten „Pergamon Poems“ erzählt von den Schiffen, ist durchzogen von den Stimmen der Angler, kreist um das alte und das neue Istanbul. Im Mai wird Falkner mit türkischen Musikern das Bosporus-Poem aufführen, in Istanbul, in der antiken Zisterne. Die türkische Übersetzung ist in Arbeit.

So viel Echo aus der Geschichte vernimmt der Besucher auch hier in Tarabya, am europäischen Ufer des Bosporus. In dem Namen steckt das griechische Wort Therapie, ein Hinweis auf uralte Besiedlung und das angenehme Klima in dem Villenviertel. 1880 schenkte Sultan Abdulhamid II. das prächtige Grundstück dem Deutschen Reich. Kaiser Wilhelm II. war vom Orient besessen; ein Segen für die deutschen Archäologen und die Berliner Museen. Aber die Passion hatte vor allem strategisch-militärische Gründe, es galt das bizarre Wort von der „deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft“. 1889 wurde das Ensemble fertiggestellt, als Villa des deutschen Botschafters im Osmanischen Reich, mit Wirtschaftsgebäuden und 14 Hektar Auslauf und Grün. Heute wird das Anwesen von der Botschaft der Bundesrepublik in Ankara verwaltet. Es grenzt an das schwer bewachte Grundstück mit der Villa des türkischen Staatspräsidenten Gül.

Fünf Wohnungen stehen für Stipendiaten zur Verfügung

Der Dichter Gerhard Falkner in der Künstlerkolonie Tarabya.
Der Dichter Gerhard Falkner in der Künstlerkolonie Tarabya.

© Jim Rakete

Ein wenig hat es gedauert, aber jetzt ist klar, woran das alles hier erinnert. Die helle, luftige Architektur reflektiert nicht nur den Stil der hölzernen Bosporusvillen, sondern auch den legeren Luxus der zur gleichen Zeit erbauten wilhelminischen Sommerfrischen in den „Kaiserbädern“ auf der Ostseeinsel Usedom.

„Es ist der richtige Ort zur richtigen Zeit“, sagt Falkner. Istanbul zieht Künstler so magisch an wie New York in den Achtzigern. In der 18-Millionen-Stadt weitet sich die europäische Zentralperspektive, verändert sich der Blick auf die eigene Kultur, die auch hier Wurzeln hat – und Zukunft. Gehört die Türkei in die EU, oder haben Brüssel und Berlin mit ihrer zögerlichen Haltung den Anschluss an die neuen geopolitischen Verhältnisse schon verpasst?

Die schwierige Geschichte der Akademie von Tarabya ist ein Spiegel dieser Unsicherheit, gar Abkapselung. Während sich der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier stets für die Idee begeistert hat, war das Auswärtige Amt unter FDP-Führung lange Zeit nicht erpicht auf eine Künstlerkolonie. Erst im Juni 2012 hat der Bundestag die Mittel freigegeben und den Weg nach Tarabya geebnet. Momentan stehen fünf Wohnungen für Stipendiaten zur Verfügung. Weitere Gebäude bieten sich zum Ausbau an, für einen Veranstaltungsraum, eine türkisch-deutsche Begegnungsstätte.

Betreut wird das große Kleinod vom Goethe-Institut in Istanbul. Die Leiterin Claudia Hahn-Raabe, seit acht Jahren in der Türkei, hat hingebungsvolle Aufbauarbeit geleistet, den politischen Rangeleien und Eifersüchteleien in Berlin zum Trotz. Noch atmet der Künstlerort den Geruch des Neuen, Experimentellen, das macht den Charme aus. Speziell ist auch das Auswahlverfahren. Man kann sich, anders als bei der Villa Massimo in Rom, nicht bewerben für Tarabya. Die Stipendiaten werden von einer Jury nominiert. Ihr gehören die Schauspielerin Sibel Kekili, die Theaterleiterin Shermin Langhoff, der Komponist Wolfgang Rihm, der Kurator David Elliott und als Vorsitzender Joachim Sartorius an, der Schriftsteller und frühere Intendant der Berliner Festspiele.

Istanbul ist die Stadt der Brücken, zwischen Stadtteilen und Kontinenten. Tarabya ist eine ähnliche Aufgabe zugedacht. „Der Austausch der Kulturen wird durch eine Vernetzung der Kulturschaffenden mit der kulturellen Szene vor Ort gefördert“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung vom Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut. Darauf versteht sich Claudia Hahn-Raabe bestens. Allerdings wird sie turnusmäßig Ende des Jahres Istanbul verlassen, Richtung Lissabon.

Vor drei Wochen ist Jim Rakete eingetroffen. Einst hat er mit seiner Kamera das Gesicht der deutschen Rockmusik geprägt, war Manager und Produzent der Neuen Deutschen Welle, von Nina Hagen bis Nena. Heute träumt der Fotograf von einem Museum für Fotografie und Malerei in Berlin, nach dem Vorbild der Londoner National Portrait Gallery. Über sein Projekt für die Zeit am Bosporus verrät er nicht viel. Er will schreiben, auf keinen Fall jedoch seine Autobiografie.

Der Blick auf den Bosporus ist eindrucksvoll

Der Dichter Gerhard Falkner in der Künstlerkolonie Tarabya.
Der Dichter Gerhard Falkner in der Künstlerkolonie Tarabya.

© Jim Rakete

Wir machen einen Spaziergang über das Gelände. Zum Tennisplatz, wo die Stipendiaten ihren Aufschlag üben können. Zum Teehaus, das Jim Rakete sich als Atelier vorstellen könnte. Zum „Matrosenhaus“, wo einst Soldaten des marineverrückten Wilhelm II. untergebracht waren und eines Tages Künstler einziehen könnten. Zum Friedhof, wo für so viele deutsche Seeleute der Wahnsinn von zwei Weltkriegen endete. Hier liegen hunderte, wenn nicht tausende Gefallene. Etliche anonym. Und Namen über Namen, junge Männer, Krankenschwestern, die Besatzung eines U-Boots, das im Schwarzen Meer unterging. Eine stumme Sinfonie des Grauens erhebt sich über der gepflegten Ruhestätte. All die ungeschriebenen Geschichten, vergessenen Tragödien. Jim Rakete, Jahrgang 1951, sagt: „Unsere Generation hat wirklich Glück gehabt.“ Es ist ein seltsames Erlebnis, mit einem Mann, dessen Kunst es ist, das menschliche Antlitz zu bannen, es zum Sprechen zu bringen, durch die langen Reihen gesichtsloser Opfer und Täter zu schlendern.

Regine Dura bewohnt das Appartement im Dachgeschoss. Hier ist der Blick auf den Bosporus noch eindrucksvoller. Zusammen mit dem Berliner Theatermacher Hans-Werner Kroesinger recherchiert die Dokumentarfilmerin für ein Stück mit dem Arbeitstitel „1914“; angesiedelt in Sarajevo, Belgrad, Istanbul und Berlin. Schauspieler aus diesen Städten werden beteiligt sein. Kroesinger ist bekannt für seine schmerzhaft-peniblen Sondierungen von Geschichte und Politik. Zuletzt brachte er im Hebbel am Ufer die Produktion „Failed States: Somalia“ heraus. Regine Dura erzählt in ihrem Film „Weißes Blut“ von deutschen Waisenkindern, die 1948 von einer burischen Organisation ausgewählt und ans Kap verschleppt wurden: „arisches Blut für ein weißes Südafrika“; da lebte die nationalsozialistische Barbarei weiter.

Auch Regine Dura fasziniert der Schiffsverkehr. Was tragen die Frachter über den Bosporus – Waffen in Krisengebiete? Wir sitzen und reden über die Magie des Ortes, schweigen und schauen aufs Wasser. Tarabya ist das, was man daraus macht; splendid isolation oder aktive Zusammenarbeit. Das gilt für die Künstler wie für die Politik. Es ist gut angelaufen, da sind sich die Stipendiaten einig. Und es kann noch wachsen. Wie Istanbul, dessen Puls man hier doch – gar nicht so weit draußen – spürt. Die Lage ist, mit einem Wort, ideal.

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