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Kultur: Kugelblitz, Dynamit und Quaternionen

Welch ein Ärger, welch ein Jubel: Thomas Pynchons Roman „Against the Day“ ist ein Meisterwerk – und spaltet die Kritik

„Against the Day“ ist ein einzigartiges, das heißt durch und durch originelles Buch: in seinen besten Momenten emotional mitreißend und intellektuell brillant, anrührend, aber nie sentimental, mal todtraurig, mal brüllend komisch, bis zur letzten Seite so unvorhersehbar wie eine Achterbahnfahrt im Dunkeln.

Diese Unberechenbarkeit der Handlungsführung hat gute Gründe. Wie in dem berühmten „Die-Rinder-des-Helios-Kapitel“ des „Ulysses“, in dem James Joyce die Geschichte und Evolution der englischen Sprache von ihren Anfängen bis in die Gegenwart des Dublin von 1906 nacherzählt, lässt auch Pynchon in seinem neuen Roman eine Entwicklung wie im Zeitraffer vor dem Auge des Lesers stattfinden. „Against the Day“ ist unter anderem eine kurze Geschichte der Genreliteratur, also von Science-Fiction und Fantasy, dem Abenteuer-, Horror-, Western- und Detektivroman. Pynchon imitiert und persifliert die Großmeister dieser Genres von Jules Verne über H.P. Lovecraft, Edgar Rice Burroughs, Jack Williamson, Isaac Asimov und Robert A. Heinlein bis zu Zane Grey, überbietet und übertrumpft sie an phantastischen Einfällen und unterläuft so souverän alle Erwartungshaltungen, wie denn ein historischer Roman, dessen Handlung im Wesentlichen zwischen der Weltausstellung von Chicago 1893 und 1914 spielt, heute aussehen könnte.

Wer die ersten amerikanischen Kritiken zu „Against the Day“ gelesen hat, war darauf nicht unbedingt vorbereitet: Für Michiko Kakutani, die ob ihrer oft moralinsauren Fehlurteile schon vor zehn Jahren von Philip Roth in seinem Roman „Sabbaths Theater“ veralberte Stammkritikerin der „New York Times“, ist der neue Pynchon „ein aufgeblähtes Puzzel, prätentiös, aber nicht provokativ … kompliziert, aber nicht komplex.“ Louis Menand eröffnet im „New Yorker“ seinen Verriss gleich mit der Frage: „Was hat er sich bloß dabei gedacht?“ Und Adam Kirsch in der „New York Sun“ schreibt in einem Totalverriss nicht nur den Roman („bis zum Bersten mit Merkwürdigkeiten vollgestopft“), sondern gleich den ganzen Autor ab: „Thomas Pynchon ist nicht länger der Romancier, den wir brauchen.“

Auffällig dabei ist nur, dass die Urteile über den neuen Pynchon um so harscher und übellauniger ausfallen, je früher sie veröffentlicht wurden – je größer folglich der Zeitdruck der Rezensenten war, denen der Verlag Penguin erst 14 Tage vor dem offiziellen Erscheinen von „Against the Day“ am 20. November 2006 Fahnen zur Verfügung gestellt hatte.

1085 engbedruckte Seiten, Hunderte von Charakteren, eine von keinem noch so versierten Leser voraussehbare Handlung, die sich noch dazu in seitenlangen Exkursen auf entlegene Wissensgebiete wie die Quaternionen als Erweiterung der reellen Zahlen oder die optischen Eigenschaften des auch als Doppelspat bekannten Islandspats aus der Familie der Calciten ergeht: Da kann im schnelllebigen Tagesgeschäft der Literaturkritik schon mal schlechte Laune aufkommen. Inzwischen sind acht Wochen verstrichen, die Feiertage samt ihren Festtagsbraten und Familienritualen verdaut – Pynchon-Leser erinnern sich vielleicht von „Mason & Dixon“ her an die allem Geschichtenerzählen förderliche Atmosphäre der Weihnachtszeit –, und der Rauch über dem amerikanischen Schlachtfeld um „Against the Day“ beginnt sich zu lichten. Und dabei kommt durchaus Interessantes in den Blick.

Aus den ersten amerikanischen Kritiken zum neuen Pynchon sprach eine verblüffend aggressiv vorgetragene Antiintellektualität und ein mit Händen zu greifender Überdruss an einer Literatur, die mit der Sprache selbst experimentiert und komplexere Formen wagt, als man sie aus den im Jahresabstand vorgelegten Alterswerken von Philip Roth oder John Updike kennt. Ohnehin ist der amerikanische Zeitgeist augenblicklich allem Innovativen in der Literatur besonders wenig zugetan – so er es denn je wirklich war. „Die Korrekturen“, der spektakuläre Familienroman von Jonathan Franzen, auch kommerziell einer der erfolgreichsten Romane der letzten zehn Jahre, ist im Vergleich zu den Werken eines William Gaddis, Don DeLillo oder eben Thomas Pynchon vor allem eines: kreuzbrav konventionell erzählt.

Franzen selbst hat in einem bemerkenswert luziden Essay seinen Abfall vom Glauben an die amerikanische Postmoderne mit ihren Hausheiligen wie William Gaddis („Mr. Difficult“, so Franzen) beschrieben. In ihren Kritiken vollziehen Pynchons Gegner diese Konversion nun nach: ein Abfall für alle.

Den literarischen Neoprimitiven muss ein Buch wie „Against the Day“ freilich ein Schlag ins Gesicht sein. Es atmet noch ganz jenen hochmodernen Geist der quasi-olympischen Herausforderung, der permanent an den Horizont des Möglichen verschiebbaren literarischen Bestleistungen – oder eine Spur weniger hochtrabend formuliert: des puerilen Wer-pisst-am-höchsten-gegen-die-

Wand. Dieser Geist hat uns James Joyces „Ulysses“ beschert und Arno Schmidts „Zettels Traum“ – aber auch unzählige epigonale Werke, die zur Quälerei ihrer überforderten Autoren wie Leser wurden.

Davor bewahren Pynchons „Against the Day“ drei Dinge: erstens das politische Engagement dieses Romans, der auch als Abgesang auf den Anarchismus als politische Alternative und als erstaunlich kalt erzählter Roman über Terrorismus zu lesen ist. Aktueller als hier hat Pynchon nie geschrieben. Mir jedenfalls ist keine literarisch überzeugendere Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 bekannt als Pynchons poetisch eindringliche Beschreibung New Yorks durch einen amoklaufenden Berggeist. „What It Means To Be An American“ wird auf Seite 1076 einem Jungen als Aufsatzthema gestellt. Der Schüler, der die Niederschlagung des Streiks der Minenarbeiter in Colorado am eigenen Leib erfahren hat, löst die Aufgabe in einem Satz: „Es bedeutet zu tun, was man einem sagt, zu nehmen, was einem angeboten wird, und nicht zu streiken, damit man nicht von ihren Soldaten erschossen wird.“ Diesen Blick in den Spiegel muss man als Amerikaner erst einmal aushalten.

Zweitens hat Thomas Pynchon auf seine Weise mit „Against the Day“ selbst einen Familienroman geschrieben. Auch wenn die Handlung in weiten Bögen ins Innere Asiens, nach Mexiko und Albanien, London, Paris und Venedig, in ein Irrenhaus nach Göttingen, zu den Tatzelwürmern in den Schweizer Alpen und in einem Sandschiff unter, ja, wirklich unter die Wüste führt: Letztlich erzählt Pynchon von den vier Kindern des amerikanischen Anarchisten Webb Traverse, der als „Kieselguhr Kid“ im Wilden Westen mit Dynamit für gerechtere Verteilung und Eigentumsverhältnisse sorgen möchte und dadurch ins Visier des Erzkapitalisten Scarsdale Vibe gerät, der ihn durch zwei Auftragskiller beseitigen lässt. Seit dem „Graf von Monte Christo“ wurde nicht mehr so genüsslich von Rache erzählt.

Drittens – und das gerät bei all dem Gewese um die ach so großen Anforderungen, die dieser Autor angeblich an seine Leser stellt, leider immer etwas aus dem Blick – ist Pynchons vielleicht größte Stärke sein Humor. Gewiss, Quaternionisten als „die Juden der Mathematik“ zu bezeichnen, wird nicht bei jedem Schenkelklatschen auslösen. Auch darf man, zumindest als deutschsprachiger Leser, von den in Göttingen, also im „Land of Lederhosen“, so Pynchon, spielenden Passagen ein wenig enttäuscht sein. Aber der Henry James lesende Hund Pugnax, kommunizierende Kugelblitze und Tornados namens Thorvald sowie die herrlich albernen Songs tragen über manche Durststrecke hinweg.

Das spektakulärste Kabinettstück dieses in seinem überbordenden Reichtum an eine phantastische Wunderkammer erinnernden Romans ist aber Thomas Pynchons Referenz an die technikbegeisterte Abenteuerliteratur der Jahrhundertwende: die „Chums of Chance“, fünf Luftschiffer an Bord der „Inconvenience“. Ihnen gönnt Pynchon das vielleicht schönste Happy End der modernen Literatur. „They fly toward grace“, heißt der letzte Satz des Romans. Diesen Flug in Richtung Gnade sollte kein Leser versäumen.

Thomas Pynchon: Against the Day. The Penguin Press, New York 2006. 1085 Seiten, 35 USD (Listenpreis).

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