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Jerome

© Tsp

Kultbuch: Schreiben im Schrank

Erst schrieb er den Roman ''Der Fänger im Roggen'' und danach brach das Schweigen über sein Leben und sein Werk herein. Immer wieder kursieren Gerüchte über ein neuen Roman in den Zeitungen. Der Schriftsteller J. D. Salinger feiert seinen 90. Geburtstag.

Jeder, der Gefühle hat, hat das erlebt, zumindest bevor er erwachsen wurde: das plötzliche Herausfallen aus der Umgebung, das Fremdwerden mit der Welt. Die Außenperspektive, von der aus alles, was Selbstverständlichkeit beansprucht, auf einmal schräg erscheint und verlogen. Phony. So nennt es Holden Caulfield, der 16-jährige, vom College geflogene Bürgersohn, Schutzheiliger aller Heranwachsenden. Der Erzähler aus „Der Fänger im Roggen“ ist eine der prägendsten Figuren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Morgen wird sein Schöpfer 90. Und wahrscheinlich wünscht sich Jerome David Salinger noch immer, er hätte dieses Buch nie geschrieben.

Als Holden ziellos durch seine Heimatstadt New York streift, als Fremder im Vertrauten, landet er in dieser Jazzbar, wo er kotzen könnte angesichts der duckmäuserischen Vergötterung, die das Publikum dem Pianisten entgegenbringt. „Wäre ich Klavierspieler“, heißt es, „würde ich in einem gottverdammten Klo spielen.“ Je nachdem, wie man „closet“ übersetzt, könnte es auch ein Schrank sein. In Eike Schönfelds Neuübersetzung von 2003 ist ausgerechnet dieser Satz durchgerutscht, der doch für die ganze Lebensphilosophie eines Autors stehen könnte.

Salinger lebt seit 1953 im Schrank. Vielleicht ist die beste Figur, die dieser Jahrhundertautor geschaffen hat, tatsächlich er selbst: der paranoide Eigenbrötler, der zurückgezogen in den Hügeln von New Hampshire haust und mit niemandem spricht außer seiner ihn pflegenden (dritten) Frau. Der Neurotiker, der seine Anwälte alle Spuren tilgen lässt, die zu seiner Person führen. Der besessene Literat, der alles seiner Kunst unterordnet und sie gar davor schützt, sie mit anderen zu teilen. Der angeblich seit Jahrzehnten täglich sechzehn Seiten schreibt, ohne eine einzige zu veröffentlichen. Lebt er überhaupt noch? Zumindest hört man nichts Gegenteiliges.

Der Ruhm, der Salinger zuteil wurde, steht in umgekehrtem Verhältnis zur Zahl seiner Veröffentlichungen. Offenbar fand er, der sich mit 34 aus dem Literaturbetrieb zurückzog, den Rummel um seine Person auch phony. Je berühmter der Autor wurde, desto weniger wollte er sich mitteilen. Und je weniger er sich mitteilte, desto größer wurde die Gier auf Neuigkeiten, desto mehr Raubdrucke kursierten und desto dringender wurde gewartet, ob er nicht doch noch kommt, der zweite große Roman, das Jahrzehnte in Einsamkeit gehegte Meisterwerk.

„Der Fänger im Roggen“, erstmals 1951 erschienen, ist das bis heute bedeutendste Coming-of-Age- Buch, der „Werther“ der Konsum- und Popkultur. Noch immer geht eine Viertelmillion Exemplare jährlich über die Ladentische. Dabei finden die Leiden des verwöhnten College-Kids nicht nur im Westen Anklang. Auch in China und Japan etwa hat Salinger treue Fangemeinden. Die Unmittelbarkeit der Sprache, mit ihrer Orientierung am Alltags-Slang und starken rhythmischen Gestaltung, diente Beat- und Pop-Poeten als Vorbild. Sie reißt noch heute mit. Fast wirkt sie wie eine frühe Vorlage für die Spoken- Word- Literatur, die auf Poetry Slams gepflegt wird. Mit Eike Schönfelds Neuübersetzung von 2003, die endlich die Spuren all der Zensurverfahren tilgte, wurde die leidige Version von Heinrich Böll ersetzt, die selbst auf der prüden Übersetzung Irene Muehlons beruhte, welche sich ihrerseits an einer gekürzten britischen Version orientierte. Nachdem zwei ganze Generationen das Buch im Englisch-Unterricht lasen, ist es nun bereit für die nächsten.

Salinger hat jede Verfilmung seines Werks verboten. Er konnte allerdings nicht verhindern, selbst zur Filmvorlage zu werden: Sean Connery spielte 2000 in „Forrester – Gefunden!“ den versteckt lebenden Bestseller-Autor William Forrester, der von einem schreibenden College Kid zurück ins Leben geholt wird. Eine Hoffnung, die sich im Fall des echten Salinger wohl nicht mehr erfüllen wird.

Kann das funktionieren? Der Welt ein Kultbuch schenken, um dann nichts mehr von ihr wissen zu wollen? Gerade die große Leerstelle, die der Autor für sich reserviert hat, sorgt schließlich für eine magische Anziehungskraft. Wie hätte Joyce Maynard, die als College-Studentin neun Monate mit Salinger lebte, ihr Versprechen halten können, alle Gespräche und Briefe für sich zu behalten? Zum 80. Geburtstag erschien ihr Bericht „At Home in the World“. 2000 folgte Margaret Salingers Buch über ihren Vater, der sie angeblich als Kind ganze zweimal in seine Schreibstube blicken ließ. Sohn Matt immerhin hält dicht.

1998 kündigte sich zum letzten Mal eine Veröffentlichung an, die sich aber lediglich als Nachdruck des bereits 1965 im „New Yorker“ erschienenen Textes „Hapworth 16, 1924“ entpuppte, Teil der Saga über die Glass-Familie und das letzte literarische Lebenszeichen, das aus dem Dorf Cornish gedrungen war. Auch so ein Rätsel: wenn Salinger tatsächlich seit Jahrzehnten schreibt, warum wählte er dann ausgerechnet die schwächste bisherige Publikation für eine Neuveröffentlichung aus? Nach einem Verriss in der „New York Times“ zog der Verlag „Orchid Press“ die Ankündigung zurück. Seitdem herrscht Schweigen. Der Presse bleibt nichts, als immer wieder aus dem letzten Telefon- Interview mit der „New York Times“ von 1974 zu zitieren: „Ich schreibe nur noch zu meinem eigenen Vergnügen“, gab der Autor damals zu Protokoll. Im Nichtveröffentlichen liege „ein wunderbarer Frieden“.

Anlässlich des 90. Geburtstags wird eine Frage erlaubt sein: Was wird aus dem Werk, wenn sein Autor nicht mehr ist? Was verbirgt sich in den Schränken in Cornish, New Hampshire? Man darf sich auf einen legendenträchtigen Nachlass einstellen. Aber höchstwahrscheinlich werden wir gar nichts mitbekommen, wenn sich Jerome David Salinger verabschiedet. Er wird es heimlich tun.

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