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Philosoph und Filmemacher: Nicolas Roeg.

© Eduardo Abad/dpa

Kultregisseur Nicolas Roeg gestorben: Wenn die Filmwelt Trauer trägt

Der Venedig-Thriller war sein Meisterwerk: Mit dem britischen Regisseur verliert die Kinowelt einen großen Rätsler. Ein Nachruf.

„Nichts ist, was es scheint“, so lautet der Schlüsselsatz des Filmklassikers „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ aus dem Jahr 1974. Basierend auf einer Erzählung von Daphne du Maurier handelt der Film von einem Ehepaar (Donald Sutherland und Julie Christie), das versucht, den Tod ihrer kleinen Tochter zu verarbeiten. Dabei gerät es in einen schwindelerregenden Strudel aus Erinnerungen, Vorahnungen und Visionen. Auf kaum sichererem Boden als die traumatisierten Protagonisten befindet sich das Publikum, das nie genau weiß, ob es es gerade mit einem Ehedrama, einem Psychothriller oder einem Horrorfilm zu tun hat.

Nichts ist, was es scheint – das könnte das Motto aller Filme von Nicolas Roeg sein. Seine Karriere als Regisseur begann 1970, in einer Zeit also, in der das Kino diesseits wie jenseits des Atlantiks experimentierfreudig und die Filmbranche durchlässig war wie nie zuvor war. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmemachern, die in dieser Phase auf der Bildfläche erschienen, war Roeg jedoch nicht Kritiker gewesen oder hatte Film studiert, sondern blickte bereits auf 23 Jahre in der Filmindustrie zurück. Mit 19 Jahren war er von einem Studio angestellt worden und hatte sich dort hochgedient, vom Schnitt- zum Kameraassistenten und schließlich Kameramann.

Roeges Filme erregten selbst in den liberalen Siebzigern Anstoß

Wer daraus ableitet, Roegs Zugang zum Filmemachen wäre eher handwerklich und weniger intellektuell als der vieler seiner Zeitgenossen, liegt dennoch falsch. Zwar ist er kein Autorenfilmer im engeren Sinne, weil er niemals seine eigenen Drehbücher schrieb, doch seine visuelle Handschrift ist ebenso radikal, innovativ und unverkennbar wie die beherrschenden Themen seines Werks. Dazu gehören Konflikte zwischen Individuum und Umwelt, Fragen nach Identität, (selbst-)zerstörerische Liebe und immer wieder mystische, okkulte und übernatürliche Elemente. Dabei untergräbt Nicolas Roeg immer wieder die Sehgewohnheiten, indem er verschiedene Realitäts- und Zeitebenen verschränkt. Seine expliziten Darstellungen von Sex und Gewalt erregten selbst in den liberalen Siebzigerjahren Anstoß.

Das begann bereits mit seinem Regiedebut „Performance“, einem Film, den die Produzenten eigentlich als anspruchsloses Starvehikel für Mick Jagger vorgesehen hatten. Unter den Händen von Nicolas Roeg (und seinem Co-Regisseur, dem Maler Donald Cammell) wurde daraus ein psychedelischer Höllentrip, der Elemente des Gangster- und Musikfilms durch ein Pop-Art-Kaleidoskop drehte. Zwei Jahre brauchten die schockierten Produzenten, bis sie sich 1970 endlich zu einer Veröffentlichung des Films durchringen konnten.

Roeg verhalf David Bowie und Mick Jagger zu Schauspielerkarrieren

Es folgte der animistische Outback-Abenteuerfilm „Walkabout“ (1971), bevor Roeg 1973 mit „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ sein Meisterwerk gelang. 1976 verhalf er in dem satirischen Science-Fiction-Drama „Der Mann, der vom Himmel fiel“ nach Mick Jagger mit David Bowie einem weiteren Rockstar zu einer Schauspielerkarriere. 1980 arbeitete er in dem Thriller „Blackout – Anatomie einer Leidenschaft“ erstmals mit seiner späteren Frau Theresa Russell zusammen, die in den meisten seiner folgenden Filme zu sehen ist. Mit dem düsteren Kinderfilm „Hexen hexen“ nach einer Kurzgeschichte von Roald Dahl gelang Roeg 1990 noch einmal ein Kassenhit.

Als einen „ersten Hinweis zur Lösung des Rätsels, was wir auf der Welt machen“, hat Nicolas Roeg das Medium Film einmal beschrieben. Der britische Regisseur starb nun mit 90 Jahren. Mit ihm hat das Kino einen seiner großen Rätsler und Künstler verloren.

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