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Weg in den Monotheismus. Der Exodus aus Ägypten in einer mozarabischen Bibelillustration des 10. Jahrhunderts.

© Ullstein Bild

„Kulturen des Bruchs“: Wo das Alte aufhört und das Neue beginnt

Vom Nutzen und Nachteil der Historie: eine Berliner Konferenz der Bundeskulturstiftung über „Kulturen des Bruchs“.

Von Gregor Dotzauer

Als der Philosoph Odo Marquard das Wort „Zukunft braucht Herkunft“ prägte, konnte er nicht wissen, welche seltsame Karriere es machen würde. Was er einmal als Hinweis darauf verstanden hatte, dass kein menschliches Leben lang genug sei, um es in seinen zentralen Überzeugungen jedes Mal von Grund auf neu einzurichten, weshalb man sich auch auf Gewohnheiten verlassen müsse, war in Matthias Platzecks Buch über „Deutsche Fragen, ostdeutsche Antworten“ schon der Versuch, etwas besonders Liebenswertes über die DDR zu sagen. Für die hessische Firma Salomon FoodWorld („Eatertainment at its best!“) ist es in der radikalisierten Form „Herkunft ist Zukunft“ ein Schlachtruf, der im Namen eines Edel-Burgers an steiermärkische Bio-Kühe ergeht, während die Gegenversion „Zukunft statt Herkunft“ für die Arbeitsrechte von Migranten agitiert. So schnell werden geflügelte Worte flügellahm.

Wieviel Geschichtsbewusstsein braucht der Mensch, das wollte auch die zweieinhalbtägige Tagung „Kulturen des Bruchs“ wissen, die von Donnerstagabend an im Haus der Berliner Festspiele drei Bühnen bespielte. Wenn es dabei am Ende um wirklich alles ging, die Unausweichlichkeit von Wirtschaftskrisen (Werner Plumpe) und den möglichen Systemkollaps (Hartmut Rosa), die Abenddämmerung der parlamentarischen Demokratie (Herfried Münkler), das Zerbrechen Europas und die Chancen der Nationalstaatlichkeit (Christoph Schönberger), um Geschichtsvergessenheit (Christian Meier) und Maschinengedächtnis (Constanze Kurz), die Obszönität der zeitgenössischen Literatur und die Sinnhaftigkeit eines Blasphemieverbots (Martin Mosebach und Sibylle Lewitscharoff), so ging es daneben aber noch um eines: nämlich eine Art Schaulaufen der deutschen Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften.

Keine rein akademische Veranstaltung hätte soviel Prominenz in die Schaperstraße locken können wie die Bundeskulturstiftung in dieser von Stephan Schlak und Friederike Biron kuratierten Parade von grand old men. Nie wieder wird man die Generation der 80-Jährigen, die den Krieg noch miterlebt haben, mit solcher Verve erleben wie hier.

Ein werbetaugliches Bild für die Kraft der zwei Herzen, das leicht verdeckt, wie sehr die Vitalität des einen die Fragilität des anderen ist. Denn nicht nur Odo Marquard (Jahrgang 1928), der auch als Schüler des während der Tagung oft beschworenen Joachim Ritter ein Mann der Stunde gewesen wäre, fehlte: Selbst mit Einladung hätte man ihn wohl nicht mehr auf die Bühne bekommen. Sein Ritter-Kommilitone Hermann Lübbe (Jahrgang 1926) dagegen hatte trotz gesundheitsbedingter Absenz einen Vortrag über das Vergessen und die Historisierung der Erinnerung hinterlassen, der scharfsinnig wie kein anderer das Spannungsfeld von Vergangenheitslehren und Innovationsbedürftigkeit ausmaß.

Die auftraten, hatten dafür Rampensau-Qualitäten, um die sie mancher halb so alte Kathederpfau beneiden müsste. Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer (Jahrgang 1932) sprang zu seiner Performance geradezu ans Pult, und der Althistoriker Christian Meier (Jahrgang 1929) spreizte sich in einer Weise, gegen die der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff (Jahrgang 1925) ein Vorbild an keuscher Demut war.

Noch vor zwei Jahren hatte Meier in seinem Buch „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ vom „öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit“ gehandelt. Seinen Unmut über ein erstickendes Übermaß ritualisierten Gedenkens, insbesondere der NS-Zeit, konnte er aber nicht so recht artikulieren - vielleicht, weil er sich nicht gemein machen wollte mit dem Anti-„Moralkeulen“-Walser der Frankfurter Paulskirchenrede oder gar mit Ernst Nolte, dem rechten Wortführer im Historikerstreit um die Singularität des Holocaust. Wahrscheinlich lag es schlicht daran, dass er, wie er bekannte, genau solange für das Erinnern gekämpft habe, bis es Mode geworden sei.

Lieber wetterte er gegen die heutigen Geschichtsstudenten, die nicht mal mehr wüssten, wer Bismarck sei, hielt eine Philippika gegen das historisch kontextfreie Regietheater und schenkte auch seinem berühmten Tagungskollegen, dem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann (Jahrgang 1938), nichts: Dessen Thesen würden überschätzt. Aber wie gab er mit Goethes Mephisto zu bedenken? „Der Teufel, der ist alt, so werdet alt, ihn zu verstehen!“ Man muss offenbar noch sehr viel älter werden, um wieder ein Stück großherziger zu werden.

Die offizielle Leitschrift der Tagung war Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Dieser zweite Teil seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ wägt zwischen dem ab, was man an Memoria schultern und was man abschütteln muss. Die viel zeitgemäßere Referenz, Harald Weinrichs Meisterwerk „Lethe“ (1997), das sich der „Kunst und Kritik des Vergessens“ widmet, wurde indes nur en passant erwähnt, obwohl es die Komplementarität von Mnemosyne und Lethe doch weit über Auschwitz hinaus untersucht. Es endet, ohne sich schon auf das Netz zu beziehen, mit einem Kapitel zum Thema „Gespeichert, das heißt vergessen“. Weinrich, Jahrgang 1927, spricht darin – unter Bezug auf Hermann Lübbe – von der Notwendigkeit, Dokumente dem Reißwolf zu überantworten. Ein Vorgang, der Archivaren unter dem Begriff Kassation vertraut ist. Und er untersucht den „Oblivionismus der Wissenschaft“, die sich gegenüber einem Großteil ihrer Hervorbringungen ignorant verhalten muss, um produktiv zu bleiben. Das Geständnis der mit befreiend unprätentiöser Ostberliner Schnauze über „Löschmaschinen“ referierenden Informatikerin Constanze Kurz, sie müsse immer schmunzeln, wenn wieder einmal jemand behaupte, das Netz vergesse nie, war wie ein aktuelles Echo darauf: Auch die größten Server und die Lösung aller Langzeitarchivierungsprobleme befreien uns nicht von den Grenzen der Aufmerksamkeitsökonomie.

Mit ihnen hatte ja schon jeder annähernd um Überblick bemühte Besucher der Tagung zu kämpfen. Wolfgang Ullrich und Christian Demand diskutierten über das Neue in der Kunst – und entdeckten allenfalls das Originelle. Karl Heinz Bohrer versuchte in einem Best-of-Bohrer-Pastiche historische und poetische Erinnerungsfähigkeit der Literatur auseinanderzuhalten – was ihm nur um den abenteuerlichen Preis gelang, die Epochenromane von Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque oder Stefan Zweig gegenüber Marcel Proust, Claude Simon oder Virginia Woolf zur unimaginativen Nicht-Literatur zu erklären.

Nicht jede Veranstaltung schaffte überhaupt den Brückenschlag zum Thema. So bot der Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch mit „Neuronengewitter“ nur eine kreuzbrave Powerpoint-Einführung in sein Metier. Martin Mosebach und Sibylle Lewitscharoff verirrten sich, allzu freundschaftlich verschworen, in einer absurden Diskussion über die Strafwürdigkeit von Gotteslästerung, statt den versprochenen „Epiphanien der Wirklichkeit“ nachzuspüren. Und das metaphernselige Großintellektuellentrio von Hans Ulrich Gumbrecht, Helmut Lethen und Ulrich Raulff, das sich in ein „Jenseits der Begriffe“ begeben wollte, rekapitulierte vergangenheitstrunken die persönlichen Bildungsgeschichten und traf sich nur in der Bewunderung für Reinhart Kosselleck. Er hatte das Ideal des ciceronischen „Historia magistra vitae“ für die neuzeitlichen Geschichte verabschiedet.

Die Momente von Präsenz, Berührbarkeit und Sinnlichkeit, die Gumbrecht in seinen Schriften so vehement einklagt und auch auf dem Podium forderte, waren rar gesät. Es regierten die selbsterklärten „Distanzpathetiker“ (Ulrich Raulff), und es war geradezu erlösend, dass Jan Assmann zum Schluss der Tagung die Motive von Erinnerung und Bruch zusammenbrachte, indem er den Auszug der Israeliten aus Ägypten als Urmythos eines modernen Wegs in den Monotheismus, hinein in Emanzipation und Aufklärung in seiner ganzen Normativität und Narrativität beschrieb. Das war zwar nur der alte Assmannsche Stiefel, aber er passte wie angegossen.

Die Jungen waren übrigens auch da, man merkte es nur nicht so recht. Der Pirat Christopher Lauer erwies sich wieder einmal als maulfauler, intellektuell nicht satisfaktionsfähiger Podiumsmann, und wenn Dreißigjährige sagen, dass sie eine Autorin wie Nina Pauer um Himmelswillen nicht als Stimme ihrer Generation haben wollen, so klafft da vielleicht doch eine Lücke. Sie wird momentan eher von einer mittleren Generation geschlossen, die unter dem Stichwort der „Nachgeborenen“ in Gestalt von Philipp Blom, Andreas Urs Sommer und Ralph Bollmann antrat.

Sie können auf jeden Fall disziplinierter diskutieren als die alten Professoren, die vermutlich jede moderne Talkshow für Teufelszeug halten, aber sich, ungezügelt von einem Moderator, in zwölf- bis 15-minütigen Statements ergehen. Ergebnisse? Davon sollte man nicht im Ernst ausgehen. Aber Stimmungen: Der Euro, der Angela Merkel zufolge unser Schicksal sein soll, wird fallen. Und die Geschichte der Geschichte der Geschichte wird weitergehen. Was sind das nur für Aussichten.

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