Kulturfestival „Mekudeshet“: Jerusalem - eine Stadt voller Grenzen
Das Jerusalemer Kulturfestival „Mekudeshet“ versucht, die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen der Stadt zu überwinden.
Den besten Rundblick über Jerusalem habe man auf dem Dach des ehemaligen Verbandssitzes des israelischen Gewerkschaftsbundes Histadrut. So versichern es die Veranstalter von „Mekudeshet“, dem sommerlichen, ganz überwiegend privat, von verschiedenen Stiftungen finanzierten Kulturfestival von Jerusalem. Tatsächlich sieht man von dort oben eine Stadt, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt.
Jerusalem ist enorm gewachsen und rüttelt an der Millionengrenze. Ausdruck dafür sind die zahlreichen Hochhaustürme, die in jüngster Zeit emporgewachsen oder im Bau sind. Dass ein erheblicher Teil der neuen Apartments die Wohnungsknappheit nicht um ein Jota verringert, sondern auf Anleger aus Übersee zielt, trifft ein Kernproblem des modernen Jerusalem. Vom Dach des Hauses aus einer Zeit, da die 1920 von David Ben Gurion gegründete Histadrut stark und einflussreich war, springen derlei Vorgänge nicht unmittelbar ins Auge. Eher schon in der Installation von Hagit Keysar und Barat Brinker, die eine Kameradrohne im Vollkreis über die Stadt fliegen ließen und deren Filmbilder auf eine große Leinwand projizieren. Dabei kommt die Drohne dem Stadtzentrum, als dessen innerster Kern der Tempelberg gilt, mit El-Aqsa-Moschee oben und Klagemauer unten, gar nicht nahe. Das israelische Militär hat eine Flugverbotszone eingerichtet, um jegliche Aktion aus der Luft, Anschläge gar, unmöglich zu machen.
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Der anspruchsvollste Programmteil von Mekudeshet heißt „Dissolving Boundaries“, Grenzen auflösen. Das Konzept dieser Stadttouren hat sich über die vergangenen Jahre als ein Zugpferd des Festivals etabliert. Zu jedem Zeitpunkt, heißt es im Programmheft, gibt es zahllose Touren in Jerusalem, alles und jedes kann man mit Stadtführern erkunden. Was da im Einzelnen tatsächlich erkundet und was im Gegenteil durch Fehlinformationen verdeckt wird, sei dahingestellt in einer Stadt wie Jerusalem – das heißt, eine Stadt „wie“ gibt es im ganzen Erdenrund nicht, sondern nur ebendieses eine Jerusalem. Hier also, wo es zu jedem Sachverhalt mindestens drei verschiedene Auffassungen gibt, eine jüdische, eine palästinensische und eine, sagen wir, internationale, hier also kann kein Stadtführer die ganze Geschichte erzählen. Deswegen treffen die mehrstündigen Touren der Grenzauflöser auf Gesprächspartner an überraschenden, oftmals auch den Einheimischen nicht vertrauten Orten, um deren je individuelle Geschichte zu hören.
Soziale, religiöse und mentale Grenzen
Riman Barakt zählt zu denen, die Grenzen überwinden und darüber sprechen. Sie lebt in einer gutbürgerlichen palästinensischen Nachbarschaft Ost-Jerusalems, wo sie ihr Büro „Experience Palestine“ betreibt, eine Art Vermittlungsstelle für Besucher aus dem In- und Ausland, um mit Palästinensern in Kontakt zu kommen, diesseits und jenseits der allerdings höchst physischen Grenze, an deren mehrere Meter hohen, drahtgekrönten Mauern sie den Besucher entlangfährt. Wer von den zahllosen Besuchern, die in Jerusalem das Heilige suchen und das Profane übersehen, kommt je an diese innere Grenze, jenseits derer die Westbank und das eigentliche Palästina beginnen, in Nachbarschaft zur Grenze städtisch, aber weitgehend ohne die Annehmlichkeiten einer funktionierenden Verwaltung?
Immerzu stößt man in Jerusalem an Grenzen: physische – die auch –, zumeist aber unsichtbare, wie die Flugverbotszone, an die sich die Drohne per GPS zu halten gezwungen ist. Noch tiefer reichen die sozialen, religiösen, mentalen Grenzen, die mitunter, aber nicht notwendigerweise deckungsgleich sind. Was trennt die ökonomisch arme Nachbarschaft ultraorthodoxer Juden westlich der Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1949, von dem ökonomisch „armen“ arabischen Viertel auf der östlichen Seite? Mitten auf der einstigen Grenzlinie steht das „Museum am Saum“, das ein zerschossenes, einst prachtvolles Haus füllt und auch diesmal wieder am Festival mit seinen in alle Richtungen ausgreifenden Programm teilnimmt. Und eine Dachterrasse zu bieten hat, von der aus sich die imaginären Grenzen zu anschaulichen Linien vereinen.
Man trifft in der Regel nur auf Gleichgesinnte
Anschaulich ist: das täglich Brot. Essen bringt Menschen zusammen, erläutert Karen Brunwasser, eine der Programmverantwortlichen, in einem Café des über alle religiösen Grenzen hinaus beliebten Mahane-Yehuda-Marktes, „aber Essen kann ebenso trennen, gerade in Jerusalem“ – oh ja, die religiösen Speisegesetze. Schon dass zwei der bekanntesten Chefköche aus Ost- und Westteil in einem früheren Festivalsommer die „New Jerusalem Cuisine“ kreiert haben, hat eine gesellschaftspolitische Bedeutung.
Jerusalem ist eine Stadt, deren Einwohner geradezu kennzeichnet, immer nur einen Teil von ihr zu kennen und überhaupt nur kennen zu wollen. Das Konzept der Grenzüberschreitung ist wohl selbst ein Produkt liberal-elitären Denkens, wie es derzeit weltweit in die Defensive geraten ist, oder sollte man sagen: liberaler Hoffnung? Insofern unterliegt, wer an einer solchen Tour teilnimmt und seinen Horizont zu erweitern glaubt, womöglich einem Zirkelschluss: Man trifft in der Regel nur auf – zumindest ansatzweise – Gleichgesinnte. Oder doch nicht? Immerhin wird die Dachterrasse des Histadrut-Gebäudes, das halb schon in einem der strengsten orthodoxen Viertel liegt, auch von dortigen Bewohnern besucht.
Geburt, Leben und Tod im Hospital
Noch näher an der orthodoxen Gemeinschaft dran ist das Bikur-Cholim-Hospital, in der Hauptsache eine Geburtsklinik mit durchschnittlich 16 Geburten pro Tag. Die Künstlerin Alit Kreitz hat eine Audiotour erarbeitet, die den Besucher per Kopfhörer durch das enge Treppenhaus aufs Dach mit seinen rührend altmodischen Glockentürmchen führt. Der Bau, errichtet als Diakonissenhaus, stammt vom deutschen Architekten Conrad Schick, dessen Spuren sich an verschiedenen Stellen in West und Ost finden. Die christliche Glocke ist verschwunden, seit das Haus nach der Gründung Israels 1948 dem Hadassah-Krankenhausverbund eingegliedert wurde.
„I would like to say I’m sorry (again)“ nennt Alit Kreitz ihre Audiotour, in der sie verschiedene Ereignisse, die mit dem Hospital, mit Geburt, Leben und Tod zu tun haben, aber auch mit Schuld und Verzeihen, zu einem eindringlichen Monolog verknüpft, der dieser religiös so aufgeladenen Nachbarschaft sehr angemessen scheint. Und gleichzeitig dröhnt der Lärm der Omnibusse herauf, die unablässig durch die enge Strauss-Straße fahren.
Liveschaltungen nach Brooklyn, Nairobi und Berlin
Alles ist gleichzeitig. Auch die Verbindung nach Berlin, die das Künstlerprojekt „Port-JLM“ des unter dem auch als DJ aktiven Gilli Levy in einem besetzten, inzwischen legalisierten Altbau eingerichtet hat, gleich neben einem Nobelhotel in Rufweite zur ummauerten Altstadt. Der goldgefärbte Standardcontainer enthält eine Art Sendestudio, von dem aus Liveschaltungen in gleichartige Container weltweit gehen – nach Brooklyn oder Nairobi, und nach Berlin aufs Gelände der Alten Münze am Molkenmarkt.
Im Zeitalter von Skype ist das nichts Besonderes – eher, mit welcher Begeisterung die über Tausende Kilometer hinweg kommunizierenden Teilnehmer diese virtual reality erleben und gestalten. Eben das ist es, was Mekudeshet ausmacht – das Sichbewusstmachen dessen, was wir tun, warum wir es tun und in welchem Kontext. Dafür ist, heilig oder nicht, Jerusalem ein sehr gutes Pflaster.