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Hier wird aufgelegt, aber nicht mehr getanzt. DJ Ørlög im Duncker Club in Berlin-Prenzlauer Berg nach dem ersten und vor dem zweiten Lockdown.

© imago images/Seeliger

Kulturförderung neu denken: Räume für Träume

Die Stadtentwicklung muss sich endlich als verlängerter Arm der Kulturpolitik begreifen. Sonst werden Städte wie Berlin nach Corona veröden. Ein Gastbeitrag.

Mathias Hellriegel ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Tim Renner ist Musikproduzent und SPD-Politiker.

Hallo Bundes- und Landesregierungen, wir haben ein Problem! Dieses Problem ist der vorherrschende Kulturbegriff. Spätestens jetzt, beim zweiten Lockdown, zeigt sich: Kultur wird als etwas Gutes und Schönes begriffen, aber nicht als etwas Essentielles.

Dabei ist sie als Kultur- und Kreativwirtschaft ein veritabler Wirtschaftsfaktor. Es ist hierzulande die Branche mit den zweitmeisten Beschäftigten und dem drittgrößten Umsatz, und sie hat in einem säkularen Staat eine entscheidende, sinnstiftende Rolle. Kulturstätten wurden nun aber wieder geschlossen, andere Betriebe, Kirchen, Tempel und Moscheen bleiben auf.

In der Wirtschaftspolitik geht es zuallererst um die Infrastruktur. Deshalb werden Straßen gebaut und Gewerbezonen in Bebauungsplänen definiert. Das ist in der Kultur nicht viel anders. Sind ihre Orte in Gefahr, kann sie sich nicht mehr entwickeln. Aus diesem Grunde sicherte man bereits in der Weimarer Republik viele Theaterhäuser. Der Staat übernahm Orte, die vom Boom des Kinos bedroht wurden.

Veralteter Kulturbegriff?

In derselben Konsequenz müsste man jetzt Kinos erwerben, die durch Netflix oder Amazon Prime ersetzt zu werden drohen. Gleiches gilt für Clubs. Doch ist unserer Kulturbegriff dafür modern genug?

Die Antwort kam vergangene Woche aus dem Bauressort im Innenministerium: Ein parteiübergreifender Antrag zur Clubkultur wurde damit beantwortet, dass der Innenminister die Clubs mit Vergnügungsstätten wie Bordellen und Spielhallen gleichsetzte. Weder war er bereit, den Ländern eine „Experimentierklausel“ in Sachen Lärmschutz zu ermöglichen, noch wollte er die Baunutzungsordnung dahin gehend ändern, dass Clubs auch außerhalb von Misch- und Kerngebieten agieren dürfen.

Auch der Antrag der über hundert Parlamentarier auf die Ausweitung des Milieuschutzes auf den kulturellen Sektor, wurde abschlägig beschieden. Kaum vorstellbar, dass das in der Bundesregierung ohne Mitzeichnung der betroffenen Ressorts geschieht: in diesem Fall des (Bundesministeriums für Kultur und Medien.

Anders als das Baurecht ist Kultur Ländersache. Teilweise bräuchte es nur ein wenig Kreativität, um bestehende Rechtssprechung im Sinne der Kultur auszulegen. Gerade in Berlin erleben wir, wie aus herausragenden Kulturorten seelenlose Veranstaltungszentren, oder Supermärkte werden. Beispiel: Kosmos, Kurbel oder Metropol.

Nutzungssicherung statt Abrissbirne

So könnten Bebauungspläne und Verträge helfen, Nutzungen zu sichern, statt – wie bei den Rieck-Hallen am Hamburger Bahnhof – vorhandene Kulturinstitutionen zu überplanen und damit sogar dem Abriss zugunsten kulturfremder Neubaupläne preiszugeben.

Nicht immer werden sich diese Kulturorte wirtschaftlich betreiben lassen. Dort kann und muss der Staat einspringen. Oder wollen wir Kinos wie das International, den Zoo Palast oder das Babylon verschwinden lassen? Auch das Berghain stünde nach Corona zur Disposition, würde es nicht, anders als die meisten Clubs, den Betreibern bereits gehören.

Über Zuschüsse ist das meist nicht zu regeln. Mieterhöhungen fallen oft größer aus als die Erhöhung der Zuwendungen an die betroffenen Häuser im Berliner Haushalt. Spielstätten wie die Sophiensäle oder das Ballhaus Ost wissen, wovon die Rede ist. Beim Radialsystem hat man entsprechend gehandelt und das Haus vom Privateigentümer übernommen. Gerade weil Berlin wächst, braucht die Stadt aber auch neue Plätze, an denen Kultur entstehen kann.

Gerade wo Kultur kleinteilig organisiert ist, also bei Probe-, Projekträumen, Galerien und Ateliers, wird sich eine Verdrängung durch Gentrifizierung oft nicht vermeiden lassen. Um dies auszugleichen, könnten bewährte Modelle der kooperativen Baulandentwicklung genutzt werden. So ist bei der Ausweisung von Wohngebieten längst anerkannt, dem Investor Infrastrukturkosten aufzuerlegen.

Investoren sollen auch für kulturelle Infrastruktur zahlen

Der Kanon der von ihm zu tragenden Pflichten kann ohne Weiteres auf Kultureinrichtungen, Ateliers und Proberäume erweitert werden. Voraussetzung ist, dass ein Bedarf konkret nachgewiesen und die Angemessenheit gewahrt wird. Doch dort, wo Berlin zusätzliches Baurecht schafft, kann das Land den Eigentümer entsprechend in die Pflicht nehmen. Das RAW-Gelände in Friedrichshain oder die Uferhallen in Wedding zeigen, dass die Eigentümer hierzu bereit sind.

Wenn neue Quartiere geplant werden, denkt man in der Stadtentwicklung automatisch Bildung, Sicherheit, Gesundheit und sogar Religion mit. Ab einer bestimmten Menge von Menschen, die sich ansiedeln, bedarf es neuer Kitas und Schulen, Feuerwehr- und Polizeistationen, Krankenhäuser.

Natürlich könnten auch die Produktions- und Expositionsflächen von Kultur mitgeplant werden. Seelen- und leblose Quartiere wie das Mercedes-Benz-Areal lassen sich so verhindern. Gerade in Zeiten des Onlinehandels und verödender Erdgeschossflächen, könnten verpflichtende Kulturflächen sogar im doppelten Sinne Teil der Lösung sein.

Neue Allianzen im digitalen Raum

Spätestens seit Corona wissen wir, die Kultur findet zunehmend im digitalen Raum statt. „Hope at Home“, „United We Stream“ und so manches aus den Mediatheken von ARD und ZDF haben uns durch die Lockdowns gebracht. Auch Medien sind Sache der Länder, insofern liegt es an ihnen, der Kultur im Digitalen sichere Räume zu schaffen. Bislang hängt die Kultur von kommerziellen Plattformen zumeist amerikanischen oder chinesischen Ursprungs ab.

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Es wäre ein Leichtes, die öffentlich-rechtlichen Angebote zusammenzulegen und für die Inhalte Dritter zu öffnen. Am besten sogar auf europäischer Ebene. So könnte ein alternatives YouTube entstehen, das Kulturschaffenden die Möglichkeit gibt, zu veröffentlichen, ohne sich einem auf Datenerwerb und Kommerzialisierung ausgerichteten Algorithmus zu unterwerfen.

Eine Kulturpolitik, die sich stärker über Räume als Inhalte definiert, wäre ein Paradigmenwechsel. Bislang fördert man lieber Inhalte. Das führt dazu, dass diejenigen besonders erfolgreich sind, die das Wesen der Projektanträge beherrschen. Andererseits fällt es dem Staat schwer, widerständige Kunst zu fördern – denn die richtet sich ja auch gegen ihn. Durch eine Raumpolitik hier buchstäblich Freiräume zu schaffen, könnte die Kulturpolitik vereinfachen. Wenn wir die Kultur nach Corona wieder hochfahren, muss sich die Stadtentwicklung als ihr verlängerter Arm begreifen.

Matthias Hellriegel, Tim Renner

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