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Achtung, Piraten! Passagiere eines amerikanischen Schiff beobachten die Annäherung der britischen Alabama. Holzschnitt von Winslow Homer (1863).

© Abbildung: Cleveland Art Museum

Kulturgeschichte: Paradiese, irgendwo da draußen

Der englische Historiker David Abulafia schreibt eine grandiose Menschengeschichte der Ozeane.

Was heute als Menetekel erscheint, nahm sich in der Vergangenheit noch als banale Tatsache aus, mit der die Menschheit zu leben und zu navigieren gelernt hatte: „Auf der Oberfläche des Erdballs ist das Wasser die Regel, die Erde ist die Ausnahme“, schrieb der große Historiker Jules Michelet über das Meer und fügte hinzu: „Zwar brauchen wir es, aber es braucht uns nicht.“

Unendlich wie das Meer ist seine Bibliografie. Die älteste und größte Meeresbibliothek gilt dem Mittelmeer, auch wenn es nur „0,8 Prozent der weltweiten Meeresfläche“ umfasst. So hat es der britische Historiker David Abulafia errechnet, der seiner gefeierten „Biografie“ dieses Binnenmeeres (auf Deutsch 2013 bei S. Fischer) im selben Verlag nun ein mehr als tausendseitiges Parallelwerk über die Weltmeere folgen lässt: „A Human History of the Oceans“ lautet der originale Untertitel, denn Gegenstand ist hier nicht die Natur-, sondern die Menschheitsgeschichte der Weltmeere.

[David Abulafia: Das unendliche Meer. Die große Weltgeschichte der Ozeane. Aus dem Englischen v. Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021. 1133 Seiten, 68 €.]

Konsequenter noch als im Mittelmeerbuch blickt Abulafia vom Wasser auf das Land und aus der Weite der Ozeane auf die Ränder der Kontinente. Inseln erkennt er als Relaisstationen für den globalen Austausch von Menschen, Dingen und Ideen. Die Reise des maritimen Historikers beginnt in prähistorischer Zeit im Pazifik, dem gewaltigsten der Ozeane, dessen Inseln seit Jahrtausenden von Menschen besiedelt sind, die gar nicht erst von europäischen Weltumseglern „entdeckt“ werden mussten, weil sie sich längst selber entdeckt hatten. Mündlich überlieferte Lieder urzeitlicher Seefahrer zeugen vom regen Verkehr zwischen Inseln, die wie Hawaii und Tahiti mehr als 4000 Kilometer auseinander liegen.

Besiedlung der Küstenlinien

Soweit der weltgeografische Rahmen, in dem ein kontinuierliches Wachstum von Verkehrsverbindungen die Besiedlung vor allem der Küstenlinien beförderte: Lange vor unserer Zeitrechnung vollzog sich dies im Indischen Ozean, erweitert um das Arabische und Rote Meer als Knotenpunkten für die Verbindung zum Mittelmeer, von dem aus sich jenseits der Straße von Gibraltar als jüngster aller befahrenen Ozeane der Atlantik öffnet. An ihm haftet der Händler, Piraten, Abenteurer und Eroberer gleichermaßen beunruhigende Gedanke, „dass da draußen irgendetwas sei“, ein „El Dorado“ oder eines der letzten Paradiese der Menschheit.

Mit „Ozeane im Austausch“ überschreibt Abulafia den die neuzeitliche Epoche behandelnden vierten Teil des Buchs. Als Brückenköpfe aller transozeanischen Schnellstraßen der westlichen Hemisphäre dienten die zwischen den afrikanischen und amerikanischen Kontinenten gelegenen Inselgruppen. Auf der Südhalbkugel fungierten sie als Umschlaghäfen nicht nur für leblose Güter, sondern auch für den Handel mit zwangsweise zu Waren gewordenen Menschen, sprich Sklaven. Wenn man sie nicht, wie auf den Kanaren, gleich vor Ort nahm, wurden sie vom afrikanischen Festland eingeführt und vorzugsweise auf den Kapverdischen Inseln zwischengelagert.

Bewandert wie nur wenige seiner Zunftgenossen mit den insularen Zwischenwelten der alten wie der Neuen Welt, haben die wohlfeilen Mythen und Legenden des Postkolonialismus keinen guten Stand, wenn Abulafia wie am Rande bemerkt: „Die Diskussion wird von der modernen Politik dominiert, und einzuräumen, dass schwarze Herrscher Sklaven“ – die Gefangenen innerafrikanischer Kriege und Bürgerkriege und die Angehörigen fremder oder unterworfener Stämme – „an weiße Sklavenhändler verkauften, fällt Historikern des Sklavenhandels nicht leicht“.

Blick für Außenseiter

Abulafia, der selbst aus einer uralten sephardischen Familie stammt, hat einen guten Blick für das Schicksal von Außenseitern wie Juden, Armeniern, Sklaven und anderen Angehörigen „schwimmender Nationen“ in maritimen Lebenswelten, darunter die Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Ethnien sich fortdauernd vermischen. Hier hat auch das komplexe Problem der religiösen Konversionen und Zwangskonversionen seinen Platz, weil es allerhand hybride Formen hervorbringt, wie sie Meeresbewohner nachhaltig prägen.

„Neuchristen“ zum Beispiel sind jene getauften Juden, die in den spanischen wie portugiesischen Machtbereichen häufig mehr noch als ungetaufte Juden drangsaliert und verfolgt wurden, weil auf sie stets der – nicht einmal ganz unbegründete – Verdacht fiel, dass sie die Konfession nur zum Schein gewechselt hätten.

Da die Ozeane, parallel zu den Handels- und Verkehrsstraßen, auch über lebendige Erzählströme miteinander verbunden sind, kann Abulafia in jedem der 51 Kapitel seines Buchs mit allerhand plastischen Geschichten, Biografien von Seefahrern und Abenteurern, Piraten und Händlern, Kriegern und Eroberern, Pilgern und Missionaren aufwarten. Als erzählerisches Talent weiß er, Seemannsgarn lustvoll aufzudröseln und manch hübsche Anekdote zu präsentieren, so von mehrsprachigen asiatischen Papageien oder von zerlegbaren Schiffen für Landtransporte, mit Bauteilen, die wie Ikea-Möbel für den erneuten Zusammenbau numerisch gekennzeichnet sind.

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Dem Leser präsentiert sich dieses monumentale Werk als ein unerschöpfliches Meer von Mikroerzählungen: von Geschichten – von Menschen und Dingen und Schiffen –, die, wie das Meer, kein Ende haben. Was wohl aus Ihnen werden mag, nachdem Abulafia auf den Seiten 999 und 1000 unter der herben Überschrift „Schluss“ lapidar befindet: „Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die maritime Welt der letzten vier Jahrtausende aufgehört zu existieren.“

An ihre Stelle tritt die globale Uniformität megalomaner Container- und Kreuzfahrtschiffe. Zurück bleibt, ihrer Anerkennung durch die Unesco harrend, eine „riesige Welterbestätte“. Abulafias Werk ist ihr erstes grandioses Denkmal.

Volker Breidecker

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