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Heiliges Land. Karte zur „Wahren Geschichte des kleinen Jesus“, der Sonderausgabe von „Charlie Hebdo“ zu Weihnachten. Der Zeichner Laurant Sourisseau alias Riss wurde beim Attentat am 7. Januar verletzt, ist aber inzwischen außer Lebensgefahr.

© Abbildung: Charlie Hebdo

Kulturgeschichte von Orient und Okzident: Kreuzzug der Worte - Das Abendland ist eine Fiktion

Das Abendland ist eine Fiktion. Damit wird Geschichte verdreht – und Stimmung gemacht. Es ist bezeichnend, dass gerade in einem Deutschland, in dem das Christentum verdunstet und das religiöse Wissen schwindet, das Fremde nun ausgerechnet religiös verortet wird.

Europa nennt sich gerne „christlich-jüdisches Abendland“, zumal in der deutschen Diskussion. Seine anderen kulturellen Ursprünge trägt es aber nur christlich maskiert mit sich herum und entlarvt sich damit selbst: Das Wort Maske kommt aus dem Arabischen.

Dafür ist Martin Luther verantwortlich. Hätte er nicht die drei Weisen „vom Morgenland“ gen Bethlehem ziehen lassen – wer weiß, ob dann jemals das „Abendland“ als Gegenbegriff aufgekommen wäre. Im griechischen Originaltext des Matthäusevangeliums reisen die drei Könige einfach nur „vom Sonnenaufgang her“ an, aus einer geografisch nur vage definierten Gegend.

Vielleicht ist deshalb der „Orient“ – wie die Lateiner das griechische „anatolai“ übersetzten – aus europäischer Sehnsuchtsperspektive immer ein seltsamer Begriff geblieben: sagenhaft, schillernd. Und vielleicht hat dies im Gegenzug auch dazu geführt, dass die „Abendlender“ – vom Strassburger Theologen Caspar Hedio 1529 in die deutsche Sprache eingeführt – so lange ein Pluralwort geblieben sind, bis die deutsche Romantik daraus ihr „Abendland“ zimmerte: Imaginäres festnagelnd in schwärmerischer Geschichtsklitterung, auf der Suche nach der eigenen Identität. Das Abendland wurde zum Kampfbegriff. In der Nachkiegsära wurde er gegen den „Bolschewismus“ in Stellung gebracht. Jetzt wird er von der rechtspopulistischen Pegida-Bewegung beansprucht.

Europa ist beides: christliches und jüdisches Abendland

„Christlich“ sollte dieses Abendland sein; „christlich-jüdisch“ wurde es erst in den vergangenen Jahren, als sich eine modische „political correctness“ mit jenen Kräften zusammenfand, die eine ideologische Basis suchten zur Abwehr des „neuen“, des „abendland-feindlichen“ Islam. Es ist bezeichnend, dass gerade in einem Deutschland, in dem das Christentum verdunstet und das religiöse Wissen schwindet, das Fremde nun ausgerechnet religiös verortet wird. Aus jedem Türken wird jetzt „der“ Islam.

Seine Wurzeln hat das im „abendländischen“ Geist der Romantik – sofern man die Romantik als eine Folge der Französischen Revolution betrachtet. Diese hatte die „alten Regimes hinweggefegt, statt der erhofften, aufgeklärten Freiheits-Ordnung aber nur Durcheinander hervorgebracht. Der Pendelschlag einer nostalgischen, raunend-frömmelnden, zunehmend „völkischen“ Selbstvergewisserung war da unausweichlich. In der Folge aber wurden aus den ebenso einheimischen wie fremd gebliebenen Judenmenschen, die Europa mit einem System aus Vorurteilen und Verboten leidlich im Griff zu haben schien, „das Judentum“, „das Weltjudentum“ auch noch. Die Entwicklung nahm ein schreckliches Ende.

Christlich ist Europa insofern, als seine Entwicklung von der christlichen Religion und deren Sozialgestalten nicht zu trennen ist. Jüdisch ist Europa, weil die christliche Religion ohne die jüdische ihre Wurzeln verloren hätte. Der Jesus des Neuen Testaments – das war eine Grundentscheidung schon der jungen Kirche – ist ohne das Alte Testament der Juden nicht denkbar; die Bibel ist eins.

Theologisch war das immer klar. Gesellschaftlich kamen die Juden, „nachdem Gott einst viele Male und auf vielerlei Weise zu den Vätern gesprochen hat“, wie es im Neuen Testament heißt, als Volk nicht mehr zu Wort. Also ist Europa nicht wirklich jüdisch, und „christlich-jüdisch“ nur in dem Sinn, dass die christliche Religion die jüdische interpretiert, gefiltert, unter Vormundschaft genommen hat.

Kirche: Größte Wende bei Menschenrechten und Demokratie

Heuchlerisch und unhistorisch ist es auch, das „abendländische Christentum“ als geschlossenen, unwandelbaren Werte-Block zu betrachten. Das heutige „Abendland“ und das Christentum in ihm – beide haben ihre Gestalt in großem Umfang durch Einflüsse gewonnen, die von außen kamen. Das Christentum ist die vorherrschende Religion Europas nicht zuletzt dadurch geblieben, dass es außerkirchliche gesellschaftliche Entwicklungen und zunächst mit dem Bannfluch belegte Ideen am entscheidenden Punkt nicht nur aufgenommen, sondern im Nachhinein auch noch biblisch-theologisch legitimiert hat. Die Anpassungsfähigkeit der kirchlichen Lehre macht nicht nur viele Verbrennungen von Ketzer-Menschen und Büchern noch bestürzender. In ihrem „gewachsenen Verständnis der Bibel“, das die Kirche nach historischen Wendepunkten immer wieder eilends bekundete, hat sie so manchen weltlichen Ideen eine christliche Maske übergestülpt und konnte als originär christlich darstellen, was jahrhundertelang das genaue Gegenteil davon war.

Die größte Wende hat die Kirche, katholisch wie evangelisch, bei Menschenrechten und Demokratie vollzogen. Diese Errungenschaften von Humanismus und Aufklärung mussten gegen die Kirchen durchgesetzt werden. Heute hingegen haben die Kirchen aus Bibel und Tradition, eine Theologie der Menschenwürde geformt, in der die Freiheits- und Gleichheitsrechte tragende Bestandteile sind. Und heute ist es in historischer 180-Grad-Wende weit mehr die Kirche als die Politik, die nach Religionsfreiheit ruft – in Ländern, in denen die Christen nicht Christen sein dürfen, weil sie damit von jener „Wahrheit des einen Glaubens“ abweichen, die dort zur Abwechslung andere definieren: die herrschenden muslimischen Kräfte.

Viele deutsche Wörter stammen aus dem Arabischen.

Heiliges Land. Karte zur „Wahren Geschichte des kleinen Jesus“, der Sonderausgabe von „Charlie Hebdo“ zu Weihnachten. Der Zeichner Laurant Sourisseau alias Riss wurde beim Attentat am 7. Januar verletzt, ist aber inzwischen außer Lebensgefahr.
Heiliges Land. Karte zur „Wahren Geschichte des kleinen Jesus“, der Sonderausgabe von „Charlie Hebdo“ zu Weihnachten. Der Zeichner Laurant Sourisseau alias Riss wurde beim Attentat am 7. Januar verletzt, ist aber inzwischen außer Lebensgefahr.

© Abbildung: Charlie Hebdo

Wie unauffällig sich Dinge maskieren, die im „christlich-jüdischen Abendland“ stecken, bei dessen politischer, ideologischer Instrumentalisierung aber wohlweislich verschwiegen werden, lässt sich an ein paar Sprachbeispielen zeigen: Zucker, Kümmel, Aprikose – was haben diese Wörter gemein? Oder: Koffer, Jacke, Sofa, Lack? Matratze und Mütze? Tasse und Watte, lila und Zwetschge?

All diese Wörter kommen aus dem Arabischen. Sie stammen aus einer fruchtbaren Begegnung der Zivilisationen vor tausend Jahren. Doch wenn selbst Historiker wie Hans-Ulrich Wehler sagen, „unsere Kultur“ sei „in keiner Weise vom Islam geprägt worden“, dann lässt sich daraus schließen, dass diese mächtige Triebfeder für Europas erste Aufklärung weithin vergessen ist oder vergessen werden soll. Es war die Explosivkraft des jungen Islam, die arabische Stämme im achten Jahrhundert zur Eroberung Syriens, Nordafrikas, Spaniens bewegt hat.

Europa lernte mit arabischen Ziffern rechnen

Just zu einer Zeit, in der sich das Mönchsdenken der abendländischen Bildung ausdrücklich damit begnügte, „in unserem Reden auf den Spuren der Kirchenväter zu wandeln und nichts aus eigener Kraft anzustreben“, entwickelten die literarisch ungeschulten „Söhne der Wüste“ eine unstillbare Neugier auf das gesammelte Wissen der späten Antike. Medizin, Mathematik, Alchimie, Philosophie, Astronomie – diese junge, unverbrauchte Intelligenz sog aber nicht nur auf, was vorhanden war, sondern entwickelte weiter. Und während sich das Abendland ein Denken außerhalb der kirchlichen Strukturen verbat, ließ der erste Islam auf seinem Gebiet den christlichen und den jüdischen Philosophen alle Freiheit, die sie brauchten – so lange sie Steuern zahlten.

Geradezu ein Reich an Gelehrsamkeit wurde Spanien. Dort übersetzten die Araber ihre wissenschaftlichen Entdeckungen, Erkenntnisse und Kommentare ins Lateinische und machten die westliche Zivilisation auf diese Weise bekannt mit zahlreichen Werken der Antike, die dem „Abendland“ unbekannt waren oder die man mit aggressiver klösterlicher Naivität zerstört hatte.

Europa lernte durch die „arabischen Ziffern“ rechnen; es lernte mit dem Astrolabium die Sternbewegungen genauer beobachten und entdeckte Widersprüche zu den bibelbezogenen Kalendern, vor allem, was das Alter der Erde betraf. Interne Ketzervorwürfe und die Kritik an der Verwendung eines heidnischen Apparats wies Bischof Lupitius aus Barcelona mit dem Argument zurück, das Astrolab untersuche lediglich „Gottes höchsten Weltenbau“. Von den Arabern bekamen die Europäer medizinische und pharmazeutische Kenntnisse, die ihnen für 500 Jahre reichten. Vor allem aber lernten westliche Denker erst über arabische Vermittlung den griechischen Philosophen Aristoteles so richtig kennen, den Vater der wissenschaftlichen Logik.

Es war die Zeit der ersten Universitätsgründungen um das Jahr 1200. Die arabisch tradierten Schriften der Antike veränderten nicht nur den traditionellen Bildungskanon erheblich; sie halfen auch einem neuen Denken auf die Sprünge: neben den braven Platonikern, der Bibel und den Kirchenvätern standen plötzlich neue Autoritäten im Raum.

Mittelalterliche Kirchenlehrer trugen Turban und arabische Tracht

Natürlich ging das nicht bruchlos vonstatten. Das „Heidnische“, das Verpönte, haftete den arabischen Autoren noch bis weit ins 13. Jahrhundert an. An der Pariser Universität konnte mit dem Tod, bestraft werden, wer einen „falschen“ arabischen Lehrer zitierte. Ohne die von einem starken Islam getragene arabische Vermittlung wäre das christliche Denken im Mittelalter viel ärmer, viel langsamer verlaufen – damit aber auch die Anbahnung der modernen Naturwissenschaften und überhaupt das Denken der frühen Neuzeit.

Die mittelalterlichen Scholastiker wussten sehr genau, was sie an den Arabern hatten. Aus Respekt vor ihnen kleideten sich der Kirchenlehrer Albertus Magnus und andere Professoren des 13. Jahrhunderts demonstrativ in Turban und arabische Tracht, wenn sie Vorlesungen über Philosophie oder Naturwissenschaft hielten. Man stelle sich vor, ein Professor von heute käme auf diese Idee. Wie schnell würde das „christlich-jüdische Abendland“ über ihn herfallen.

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