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© Bernd Thissen / dpa

Kulturhauptstadt: Die Welt ist mein Revier

Das Ruhrgebiet startet sein Jahr als Kulturhauptstadt offiziell auf der Essener Zeche Zollverein. Rem Koolhaas und HG Merz verzaubern die ehemalige Kohlenwäsche in ein Universalmuseum.

Sie haben es tatsächlich durchgezogen: Die offizielle Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres auf der Essener Zeche Zollverein, unter freiem Himmel, bei Schnee, fünf Grad Minus und scharfem Nordostwind. Herbert Grönemeyer hat seine neue Liebeserklärung an die Heimat mit dem Titel „Komm zur Ruhr“ präsentiert, bei der Show „Wir sind das Feuer“ wurde gerappt, getanzt, gesungen. Und Horst Köhler hat dem Revier zum europäischen Ehrentitel gratuliert.

Vor der Zitterparty allerdings durfte der Bundespräsident zusammen mit EU-Chef José Manuel Barroso und zwei Dutzend Auserwählten im Warmen sein Mittagessen einnehmen – und zwar im schönsten Raum des Ruhrgebiets. 38 Meter über dem Zechengelände, auf dem Dach der ehemaligen Kohlenwäsche, hatte Köhler aus dem Erich-Brost-Saal einen spektakulären Rundumblick: Zu seinen Füßen der legendäre Stadtteil Katernberg, wo Wunderfußballer Helmut Rahm aufwuchs, gen Süden die Skyline von Essen. Ungehindert schweift der Blick in allen Himmelrichtungen über das endlose Häusermeer der Ruhrmetropole, aus dem überall Schlote, Hochspannungsmasten, stillstehende Fördertürme und sogar ein paar schmächtig wirkende Kirchtürme ragen.

Das nach dem legendären Verleger benannte Brost-Penthouse dürfte bald die begehrteste Eventlocation weit und breit werden – und das darunter liegende neue Ruhr Museum der Besuchermagnet des Kulturhauptstadtjahres schlechthin. Denn was da am heutigen Sonntag dem Publikum übergeben wird, ist weit mehr als eine Heimatstube für die 5,3 Millionen Einwohner der Region. Sondern ein einzigartiger Hybrid, gleichzeitig Industriedenkmal und barocke Wunderkammer, Wissenstempel und sentimentaler Erinnerungsort, eine interaktive Erlebniswelt in atemberaubend authentischem Ambiente.

Der Förderturm der zum Weltkulturerbe geadelten Zeche Zollverein ist längst zum Symbol für den Strukturwandel im einstigen Pott geworden – nun haben die Stararchitekten Rem Koolhaas und HG Merz auch die ein wenig im Schatten des eindrucksvollen Eingangskomplexes versteckte Kohlenwäsche zur Landmarke gemacht. Auf 5000 Quadratmetern hat das früher beengt im Essener Folkwang-Museum untergebrachte Ruhr Museum einen spektakulären neuen Standort gefunden.

„Die Kohlenwäsche ist eigentlich gar kein Gebäude“, erklärt Museumsdirektor Ulrich Borsdorf, „sondern eine Maschine.“ Mit Außenmaßen von 90 mal 30 Metern und einer Höhe von 40 Metern freilich eine gigantomanische, errichtet 1928 zu Hochzeiten des Bergbaus. Mittels Förderbändern wurde alles, was die Hauer unter Tage aus den Stollen geholt hatten, ganz oben in die zwei riesigen Schlünde der Maschine geschüttet. In Wassertanks schied man dann die wertvolle Kohle vom Abfall, „Berge“ genannt. Separiert fielen die Materialien von hier in fensterlose Bunker, um schließlich durch Luken direkt in Eisenbahnwaggons zu rauschen, die auf fünf parallelen Gleissträngen zwischen den 96 Betonpfeilern des Kolosses durchfuhren.

Da das Gebäude unter Denkmalschutz steht, wie das ganze Gelände des Schacht XII, wurde die Außenhaut optisch originalgetreu belassen und lediglich technisch den Anforderungen eines Museumsbaus angepasst. Rem Koolhaas, der für die Ertüchtigung der Bausubstanz zuständig war, behandelt die Besucher des Ruhr Museums wie schwarzes Gold – und befördert sie zunächst nach oben: Nach zweieinhalb Minuten Rolltreppenfahrt betritt man die Empfangshalle auf 24 Metern Höhe, um sich dann über drei Ausstellungsetagen hinabzuarbeiten, wie ein Kumpel, der unter Tage fährt. Dass der niederländische Architekt für die äußere Gangway wie auch für das innenliegende Treppenhaus seine Nationalfarbe gewählt hat, weckt wiederum Assoziationen an den zweiten wichtigen Wirtschaftszweig des Reviers: Handläufe und Stufen erstrahlen in Oranje, grell wie glühender Stahl.

67 Millionen Euro hat man für die Umwandlung der Kohlenwäsche in einen Gedächtnisort ausgegeben, allein 12 Millionen davon verschlang die vom Büro des Stuttgarters HG Merz verantwortete Ausstellungsarchitektur. Und das sieht man: Die auf allen Ebenen omnipräsenten, Ehrfurcht gebietenden Maschinenteile treten in einen inspirierenden Dialog mit elegantester Innenarchitektur und hochraffinierter Vermittlungstechnik. Da gibt es Klangduschen mit typischen Ruhrgebietsgeräuschen, da ergänzen überall Monitore mit historischem Filmmaterial die gezeigten Objekte, da sorgen in Deutsch wie auch in Englisch beschriftete Hinweistafeln für optimale Orientierung.

Nachdem sich die Museumsmacher gegen die historisch-chronologische Ordnung ihrer Exponate und für den inhaltlichen Dreischritt „Strukturen - Phänomene - kollektive Erinnerung“ entschieden hatten, war es nur folgerichtig, den Parcours in der Jetztzeit beginnen zu lassen. Auf geschwungenen Leuchtwänden zeigen Hunderte Fotos das, was Exil-Ruhris nie wieder sehen möchten: das Prollige, das Spießige, gesichtslose Architektur, Schrebergartenkitsch, Männer, die neben ihrem Sittichkäfig im Fenster liegen und rausschauen – auf die Lärmschutzwand der A 40 direkt vor ihrer Nase.

Hier beweist man Mut zur Hässlichkeit. Aber auch Humor, wenn beispielsweise eine Vitrine mit Abendmahlkelchen aus aufgegebenen Kirchen vis à vis einer Vitrine platziert ist, in der Pokale von Taubenzüchtervereinen stehen. Eine transparente Wand von betörender Poesie zeigt, zwischen Glasplatten gepresst, Pflanzen aus allen Ecken der Region, darunter so manche mit Migrationshintergrund wie die Kartoffelrose aus Asien, ungarische Rauke oder gelben Wau aus mediterranen Gefilden. Dahinter folgt ein Erinnerungsraum, der wirklich zum Nach- und Weiterdenken anregt. Hier fokussiert sich das kollektive Gedächtnis in einer Staublunge, in Schimanskis Jacke, in einem Weckglas mit Quellwasser, das eine junge Mutter im Frühjahr 1945 eingekocht hat, um ihren Zwillingen im Luftschutzkeller keimfreie Nahrung zubereiten zu können.

Erstmals zugänglich ist die Bunker- Ebene auf 12 Metern Höhe: Keiner der 35 Arbeiter, die pro Schicht die Megamaschine betrieben, musste jemals die sechs mal sechs Meter großen Kammern betreten, in denen Kohle und Steinabfall getrennt lagerten. HG Merz hat sie miteinander verbunden und so eine Flucht von Kabinetten geschaffen, die nun wie Schatzkammern die wertvollsten Stücke fassen: Leihgaben aus dem Essener Domschatz, Mercators Duisburger Globus, Renaissance-Raritäten aus Gelsenkirchen, das Konterfei des Essener Verlegers Baedecker.

Atemberaubend, wie vor den geschundenen Betonwänden eines Wassertanks ägyptische und griechische Ausgrabungsschätze aus dem Besitz des Ruhrgebietsgeldadels ihre Schönheit entfalten können. Sinnlich betörend der Blick von der Galerie in einen Bunkertrichter, in dem riesige versteinerte Ammoniten wie Schmetterlinge aufgespießt sind. Präparierte Insekten gibt es natürlich auch, ebenso wie ausgestopfte Tiere, das Skelett eines wollhaarigen Nashorns, gefunden auf der Baustelle des Rhein-Herne- Kanals, aber eben auch Grubenlampen, bestickte Fahnen der Gesangsvereine, Fußballdevotionalien.

„Letztlich funktioniert doch ein Museum genauso wie eine Kohlenwäsche“, findet Museumsdirektor Borsdorf: „Ob Rohstoffe oder Besucher, es geht immer darum, dass sie am Ende raffinierter herauskommen.“ Darum ist die unterste, mit 3000 Objekten fast ein wenig überfrachtete Ebene wie ein fünfaktiges Schauspiel aufgebaut: Der Besucher durchlebt noch einmal die Entwicklung der Region vom Beginn der Industrialisierung über die Emanzipation der Arbeiter und die Zerstörungen der beiden Weltkriege bis zum Wirtschaftswunder. Die Dokumentation des Zusammenbruchs von Kohle- und Stahlindustrie schließlich führt ihn – ganz klassisch-griechisch – zur Katharsis, also zur Reinigung. Bilder von der Kultur als Motor des Wandels, von neuen Technologien und renaturierten Fabrikarealen beschließen den Rundgang. Saubere Sache.

Geöffnet ab heute tägl. 10 bis 19 Uhr, weitere Infos: www.ruhrmuseum.de

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