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Preisgekrönt. „El invierno“ von Emiliano Torres aus Argentinien.

© San Sebastián Festival

Kulturhauptstadt San Sebastián: Unter der Oberfläche

Finale beim Filmfestival von San Sebastián. Sieger ist die chinesische Bürokratie-Ehe-Satire „I Am Not Madame Bovary“ von Feng Xiaogang

Beim Filmfestival in San Sebastián sind gute Füße Pflicht, nicht nur wegen der ordentlich aufgereihten langen Warteschlangen vor den Kinos. Auch das Après-Cinema mit baskischen Pintxos in den Gassen findet weitgehend im Stehen statt. Alles andere ist Kür – und immer auch Willkür in einem nach allen Seiten überquellenden Programm der 64. Festivalausgabe, das sich mit über einem Dutzend Sektionen zwischen internationalem Wettbewerb, zwei Retros und dem auf Lateinamerika fokussierten begleitenden Ko-Produktionstreffen Cine en Construcción aufspannt.

Dabei wird der Wettbewerb nicht nur terminlich von dem gerade beendeten Festival in Toronto bedrängt, wo eine ganze Reihe an Beiträgen schon im Programm standen. So auch die chinesische Bürokratie-Ehe-Satire „I Am Not Madame Bovary“ von Feng Xiaogang, die neben der Goldenen Muschel für den besten Film auch eine Silberne für Hauptdarstellerin Fang Binbing erhielt. Der Regiepreis ging für Hong Sang-soos elegant-unheimliche Doppelgänger-Romanze „Yourself and Yours“ an einen anderen asiatischen Meister. Würdig vertreten im Preisregen durch die bedächtige von Cine en Construcción geförderte patagonische Generationenstudie „El invierno/The Winter“ auch die starke Präsenz lateinamerikanischer Filme auf dem Festival. Dass sich der argentinische Debütant Emiliano Torres den Jury-Preis aber mit dem verunglückten schwedischen Rührstück „Jätten/The Giant“ (Regie: Johannes Nyholm) teilen musste, lässt sich nur mit internen Unstimmigkeiten der Jury um Präsident Bille August erklären.

Als männlicher Darsteller wurde Eduard Fernández für seine bemerkenswert wandelbare Interpretation der Titelrolle in Alberto Rodriguez’ „El hombre des las mil caras/Smoke and Mirrors“: einem Film, der in satirischer Manier den wahren Fall des Schweizer Allround-Abenteurers Francisco Paesa aufgreift, der in den 1990er Jahren erst dem ehemaligen Guardia-Civil-Chef Luis Rondán bei der Vertuschung einer gigantischen Veruntreuung öffentlicher Gelder half und ihn dann verpfiff. Nur eine von vielen rasanten Wendungen in einem von bitterem Ernst grundierten Gauner-Stück. Denn vor seinem Wirken für Rondán war Paesa auch für die geheimdienstliche Anti-ETA-Truppe GAL und ihre klandestinen Mordeinsätze aktiv.

Vor genau fünf Jahren schwor die ETA öffentlich der Gewalt ab

Diese Zeiten scheinen heute fern – das modernistische „Kursaal“-Veranstaltungszentrum vor der Zurriola-Bucht ist nur von ein paar lässigen Polizisten der baskischen Ertzaintza bewacht, die aufgestellten Sperrgitter dienen dem gesitteten Ablauf der hier besonders ausdauernden Wartekolonnen. Auch sonst läuft das Leben in Donostia (so der baskische Name von San Sebastián) auffällig ruhig und beschaulich ab. Dabei jährt sich am 20. Oktober gerade erst zum fünften Mal, dass die ETA unter massivem polizeilichen Druck öffentlich der Gewalt abschwor.

Dieser Jahrestag war auch ein Anlass, die Stadt 2016 neben Breslau zur Kulturhauptstadt Europas zu küren. Eine Auszeichnung, die San Sebastián mit einem basiskulturell unterfütterten und in verschiedenen Städten der Region realisierten Programm interpretiert, das unter dem schmerzhaft aktuellen Motto „Wege des Zusammenlebens“ an die eigene weit zurückreichende Geschichte der Gewalt in der mehrfach von französischen Truppen eroberten ehemaligen Kriegshafenstadt anknüpft.

Das große Ausstellungsprojekt widmet sich den Friedensverträgen seit 1516

Ein Zentrum gibt es dennoch: das in Zusammenarbeit mit 21 Museen weltweit realisierte und historisch ebenso weit ausgreifende Ausstellungsprojekt „Peace Treaties 1516–2016“ in den örtlichen Ausstellungsräumen von Museoa San Telmo und Koldo Mitxelena Kulturunea. Ausgangspunkt sind Thomas Morus’ „Utopia“ und die humanistische Rechtsschule von Salamanca um den Dominikaner Franciso de Vitoria, deren – die Erfahrungen von Reconquista und kolonialer Conquista reflektierende – Lehre die Vorlage für einen Streifzug durch künstlerische und dokumentarische Repräsentationen von Konflikt und Pazifierung gibt. Dabei gibt es auch deutliche Kritik an jeglichem territorialen, nationalen Denken.

Der dennoch vor einigen Monate hochgekochte Vorwurf der ETA-Sympathie gegen einen der Kuratoren deutet aber an, dass die jüngste Geschichte unter der ruhigen Oberfläche durchaus noch präsent ist, wobei auch Intrigen um die immer noch ungeklärte Regierungssituation eine Rolle spielen dürfte. Aufschlussreiche thematische Schwerpunkte zum Komplex baskischer Nationalismus und ETA gab es auch in der großen (neben einer Jacques-Becker-Personale) globalen Krisenherden gewidmeten thematischen Retrospektive „The Act of Killing“ und der baskischen „Zinemira“-Reihe, wo sich neben Hommages an Eduardo Chillida und die fast vergessene 1938 geborene Regisseurin Mirentxu Loyarte mit der Uraufführung von „El fin de ETA“ auch – gute Ergänzung zur Ausstellung – die ebenso minutiöse wie spannende Dokumentation der sich über Jahrzehnte hinziehenden und am Ende gescheiterten Friedensverhandlungen mit ETA fand (Regie: Justin Webster). Einen Tag nach Ende des Festivals am Sonntag sind im Baskenland übrigens Regionalwahlen angesetzt.

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