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Kulturinvest-Kongress: Die Idylle der Raufbolde

2016 wird der Dresdner Kreuzchor 800 Jahre alt. Wie sich die Traditionsmarke in die Zukunft führen lässt.

Wer einmal den zauberhaften Klang eines wirklich sauber singenden Knabenchores gehört hat, wird ihn wohl kaum vergessen. Auch wenn es immer wieder angezweifelt wird: Ein Junge singt anders als ein Mädchen. Wie genau, daran scheiden sich die Geister. Ist es die besondere Klarheit, das Timbre, die Authentizität? Oder doch das unbewusste Aufbrechen von Rollenmustern, die Überraschung, einen männlichen Jugendlichen, der doch eigentlich ein Raufbold sein müsste, zu erleben, wie er Kunst produziert? Nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen – nicht nur zu bewundern, sondern auch zu empfinden?

Der Dresdner Kreuzchor gehört zu den ältesten und berühmtesten Knabenchören der Welt. Auf sein 800-jähriges Jubiläum, das er im nächsten Jahr feiert, ist er stolz. Beeindrucken wird die Tradition dieses seit jeher von der sächsischen Landeshauptstadt getragenen Chores wohl den Verstand. Die historische Kontinuität seiner liturgischen und konzertanten Auftritte in der Kreuzkirche am Altmarkt macht staunen.

Der Chor trieb die Schützpflege voran, lange bevor die Alte-Musik-Experten den Komponisten für sich entdeckten. Sein Bach darf dem der Konkurrenz als ebenbürtig gelten, dafür ist das Repertoire erstaunlich viel größer. Immerhin bewältigen die 128 Kruzianer 100 Auftritte im Jahr – von Tourneegastspielen über Gottesdienste bis hin zu Soloaufgaben in der Semperoper.

Geht es um Hochkultur – oder um Gefühle?

Aber was überwältigt wirklich? Woran liegt es, dass sich Menschen, die sonst nie in die Kirche gehen, zu Weihnachten früh um vier für die Christmette anstellen oder in großen Bahnhofshallen für die Sänger regelrechte Spaliere bilden? Warum werden – wie gerade in Shanghai oder Peking geschehen – Elfjährige von langen Reihen wartender Autogrammjäger belagert? Geht es da um Hochkultur – oder doch vor allem um Gefühle, auch um ein Stück zerbrechlicher Idylle?

Nur ein Stein bleibt ungerührt, wenn ein Neunjähriger „Vom Himmel hoch“ von der Orgelempore singt. Ein Kind verstellt sich nicht, die physikalische Reinheit seines Gesangs integriert die Illusion der Reinheit auf emotionaler Ebene. Im Zweifel ist der Junge ja ein Raufbold und beileibe nicht das, was man gemeinhin unter einem Chorknaben versteht. Vielleicht wird er dann singend zum großen Wunder, das die Welt bewegt? Denn das Wichtigste steht eben nicht in den Noten. Das Wichtigste ist nicht, ob Heinrich Schütz oder Andreas Hammerschmidt in Referenzaufnahmen eingesungen werden. Publikumswirksam ist ein Knabenchor in Wahrheit vor allem durch seinen Auftritt im Ganzen.

Im Ausland steht der Chor für den musikalischen Reichtum Deutschlands

Es geht dabei nicht um billige Show, sondern das genaue Gegenteil. Das heißt auch, dass die musikalische Qualität und die christlichen Wurzeln wesentlich bleiben. Der Dresdner Kreuzchor und Kreuzkantor Roderich Kreile werden von Publikum und Kritik wahrgenommen als Weltmarke, mit der die Sächsische Staatskapelle, das Konzerthausorchester oder die Akademie für Alte Musik Berlin zusammenarbeiten. Und der Chor wird nachgefragt - in Deutschland und Europa, aber vor allem in Asien.

Nach dem jetzigen Aufenthalt in China fahren die Jungs über Rom nach Japan, Korea und Taiwan, außerdem kommen sie im Dezember ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt.

Schon seit den Dreißigerjahren fährt der Chor rund um die Welt. Verleiht er jeder liturgischen Veranstaltung in der Kreuzkirche eine besondere Würde, so steht er im Ausland für den musikalischen Reichtum Deutschlands. Die Kruzianer sind keine sächsischen Maskottchen mit Niedlichkeitsfaktor, sondern kulturelle Botschafter. Seit kurzem gehören sie zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands.

Und sie singen für christliche Gottesdienstbesucher ebenso wie für islamische Flüchtlinge, für Passanten und Präsidenten, in Dorfkirchen aber auch im Leipziger Stadion, nämlich die Nationalhymnen beim Länderspiel gegen Georgien.

Auftritte wie der letztgenannte entfremden den Kreuzchor weder seiner ureigenen Aufgabe, geistliche Werke in einer Kirche zu singen, noch verleugnen sie die eigene Tradition. Sie sollen ihn aber öffnen hin zu einer Publikumsgruppe, die ihn zwar durch immerhin millionenschwere Zuwendungen trägt, sich aber bisher schlicht gar nicht für ihn interessiert hat. Nicht zuletzt deswegen startet der Dresdner Kreuzchor im Dezember mit einem großen Adventskonzert im Dynamostadion sein Jubiläumsjahr. Sein Titel: „Danke, Dresden!“

Der Autor ist Mitarbeiter für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit des Kreuzchores. Wirtschaft und Kultur treffen sich am 29. und 30. Oktober im Tagesspiegelhaus zum Kulturinvest-Kongress. Mehr Informationen dazu gibt es auf der Website kulturmarken.de.

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