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Hedy Graber, Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Schweizer Migros-Genossenschaftsbund.

© Suzanne Schiwertz/Migros

Kulturinvest-Kongress: Global denken, lokal handeln

Die Kandidaten in der Kategorie „Kulturmanager des Jahres“ heißen Hedy Graber, Chris Dercon und Annemie Vanackere. Die Nominierten haben eines gemeinsam: Ihr Horizont geht weit über den ihres eigentlichen Berufsbildes hinaus.

Wer bei der Preisverleihung am 29. Oktober tatsächlich auf die Bühne des Tipi am Kanzleramt gerufen wird, um den Kulturmarken-Award in der Kategorie „Europäischer Kulturmanager des Jahres“ in Empfang zu nehmen, ist natürlich noch offen. Drei Namen wurden von der Jury für die Shortlist ausgewählt, doch nur eine oder einer kann am Ende die ehrenvolle Auszeichnung mit nach Hause nahmen. Klar ist allerdings jetzt schon: Es wird eine beeindruckende Persönlichkeit. Beispielhafter Gestaltungswille und Ideenreichtum, Mut zu neuen Ansätzen in der Kulturvermittlung und kooperatives Denken, umfangreiche Managementkompetenzen und kooperatives Denken und Netzwerkbildung, all diese Qualitäten nämlich muss mitbringen, wer „Kulturmanager des Jahres“ werden will.

Die drei Nominierten des Jahrgangs 2015 haben eines gemeinsam: Ihr Horizont geht weit über den ihres eigentlichen Berufsbildes hinaus. Beworben haben sie sich natürlich nicht selbst, sondern sie wurden vorgeschlagen.

Hedy Graber

Der Migros-Genossenschaftsbund in der Schweiz hat seit den fünfziger Jahren ein einmaliges Konzept – denn alljährlich kommt ein Prozent der Gesamteinnahmen gemeinnützigen Projekten zu Gute. Diese und viele andere Selbstverpflichtungen hatte der Unternehmensgründer Gottlieb Duttweiler einst in den Statuten verankert. Mit diesen Idealen wollte er die demokratische und soziale Teilhabe möglichst aller Schweizer fördern. Zwar wurden längst nicht alle fortgeführt, doch die Finanzierung für gemeinnützige Projekte hat bis heute Bestand.

Das bedeutet bei einem jährlichen Umsatzvolumen von knapp 27 Milliarden Schweizer Franken, dass ein gut dreistelliger Millionenbetrag zusammen kommt. Ein Drittel dieses Geldes geht an die Direktion Kultur und Soziales. Deren Leiterin Hedy Graber ist nun bereits zum zweiten Mal für den Kulturmarken-Award nominiert. Die 54-Jährige verwaltet einen der größten Finanztöpfe der Schweiz. Alleine ihrem Einsatz für die Grundsätze und Ideen des Gründers ist es zu verdanken, dass die Arbeit ihrer Abteilung ein festes Unternehmensziel des Schweizer Konzerns ist. Wie wichtig ihre Direktion ist, zeigt sich besonders darin, dass sie absolut gleichberechtigt mit den Direktionen Einkauf und Vertrieb gestellt ist.

Chris Dercon, derzeit Manager der Tate Modern in London und designierter Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Chris Dercon, derzeit Manager der Tate Modern in London und designierter Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

© Jörg Carstensen / dpa

Hedy Graber ist eine erfahrene Netzwerkerin, mit ihrer zielgerichteten Arbeit und ihrem jovialem Auftreten gibt sie dem Firmenleitbild ein Gesicht. Mit ihrer ungebrochenen Energie setzt sie selbst die anspruchsvollsten Pläne um, ihre Projektliste erstreckt sich über unzählige Seiten.

Dabei ist die Bandbreite der von ihr unterstützten und initiierten Projekte besonders umfangreich. Ein Dokumentarfilmwettbewerb gehört genauso dazu wie die neu konzipierte Comic-, Literatur- oder Pop-Labelförderung, das Jugendprogramm „Mit den Großeltern zur Klassik“ oder das Projekt „Generationen im Museum“.

Doch Hedy Graber ist als Kulturchefin keine Einzelkämpferin. Kooperationen mit anderen Förderinstitutionen unterstützt sie nachhaltig. Deshalb wurde sie auch die Präsidentin eines Zusammenschluss aller wichtigen öffentlichen und privaten Kulturfinanzierer der Schweiz, dem Verein „Forum Kultur und Ökonomie“. Mit Förderkrediten greift sie sogar der freien Kunstszene unter die Arme.

Ihr bisher größter Triumph dürfte wohl die Wiederbelebung des ehemaligen Löwenbräu-Areals in Zürich sein. Durch ihr Engagement und Zutun wurde das Gelände für die Kunstszene saniert und zugänglich gemacht, das Publikum und die Kunstmacher selbst kommen aus ganz Europa in die Schweiz. Das Gelände hat sich drei Jahre nach der Neueröffnung zu einem der wichtigsten Kunstzentren zeitgenössischer Kunst entwickelt.

Chris Dercon

Seine Intendanz an der Volksbühne in Berlin beginnt erst 2017, doch bereits mit seiner Ernennung in diesem Jahr entbrannte eine kritische Diskussion um den Belgier Chris Dercon, der Nachfolger des Theaterurgesteins Frank Castorff werden soll. Dercon gefiel das gut: Schließlich geht es „nicht um Personalien, es geht um Kultur“. Den Belgier begeistert die deutsche Tradition, das Theater zu pflegen und begrüßt es, dass der Staat diese Tradition als eigene Verpflichtung ansieht. Ganz anders als in Großbritannien, wo er die Gelder für Theater und Kultur schwinden sieht und die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Theaters vermisst. In London ist Dercon aktuell Leiter der Tate Modern.

Chis Dercon sieht sich als „Moderator der Veränderung“. Kooperationen und Austausch sind zentral für seine Arbeit, denn er findet: „Theater bedeutet Begegnung mit Menschen, für Menschen.“ Er scheint einiges Umkrempeln zu wollen in Berlin, mit ihm werden auch Projekte wie die digitale Bühne an der Volksbühne umgesetzt.

Dass Vielseitigkeit Dercons Credo ist, lässt sich schon an seiner Biografie ablesen: Er arbeitete bei Rundfunk und Fernsehen, unterrichtete als Dozent für die Fachbereiche Video und Kino, war in Kunstinstitutionen in Rotterdam und New York tätig, sogar als künstlerischer Leiter der documenta X stand er zur Debatte. Bis 2011 wirkte er acht Jahre lang Direktor des „Hauses der Kunst“ in München, wo es ihm gelang, neben der zeitgenössischen Kunst auch die Themen Architektur, Design, Mode, Film und Fotografie zu verankern.

Annemie Vanackere, Leiterin des Theaterkollektivs „Hebbel am Ufer“.
Annemie Vanackere, Leiterin des Theaterkollektivs „Hebbel am Ufer“.

© Tagesspiegel/Mike Wolff

Auch vor heiklen Aufgaben schreckte er nicht zurück, initiierte mit viel Einsatz den „kritischen Rückbau“ des Hauses aus der NS-Zeit: Die baulichen Veränderungen der Nachkriegszeit, die einer Idee der architektonischen Entnazifizierung folgten, wurden wieder entfernt. Damit ermöglichte Chris Dercon eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses.

Seinen größten Erfolg feierte Dercon allerdings mit der Wiederbelebung der Londoner Tate Modern, deren Leiter er noch bis 2017 ist. Die Galerie für zeitgenössische Kunst im Herzen der britischen Hauptstadt konnte unter Dercons Leitung eine massive Steigerung des Publikumsinteresses verzeichnen. 2016 wird ein Erweiterungsbau der Architekten Herzog & de Meuron eingeweiht. Chris Dercon ist eben ein Macher.

Auch für seine Zeit in Berlin hat er große Pläne, alles unter dem Leitbild der Zusammenarbeit. Er erhofft sich Kooperationen mit dem Hebbel am Ufer, den Berliner Festspielen und dem Festival „Foreign Affairs“, er möchte mehr Tanz in die Volksbühne bringen. Die Senatskulturverwaltung wird ihm für die Vorbereitung seiner Berliner Arbeit die außergewöhnliche Summe von 2,19 Millionen Euro zur Verfügung stellen.

Annemie Vanackere

Wenn Dercon tatsächlich eine Kooperation der Volksbühne mit dem Hebbel am Ufer einfädelt, trifft er dort auf eine ähnliche zukunftsorientiert arbeitende Persönlichkeit: Annemie Vanackere. Die Belgierin übernahm 2012 als Nachfolgerin von Matthias Lilienthal das Theaterkombinat HAU, das sich aus drei Kreuzberger Bühnen zusammensetzt. Vanackere ist eine passionierte Unterstützerin der Kampagne der Koalition der Freien Szene, sie wünscht sich mehr unabhängige Strukturen in der Geldvergabe für die Kultureinrichtungen in Berlin: Die Politik müsse hier die Realität der künstlerischen Praxis anerkennen.

Von Offenheit geprägte Strukturen, in denen Themen gemeinsam mit Künstlern entwickelt werden, gehören zu ihren zentralen Ideen und Handlungsstrategien. Deshalb ist das HAU auch mit Vanackere als Leiterin weiterhin ein Theater für Off-Gruppen und Künstler der Freien Szene. Ein Ensemble gibt es im HAU nicht. Dass das Haus damit vor allem einen Projektcharakter hat, stört sie nicht. Denn diese Strukturen hat sie bereits aus der Theaterszene in den Niederlanden und Belgien kennen und schätzen gelernt. Sie liebt und sucht ein sinnliches Theater. Nach prägenden Theaterlebnissen gefragt, nennt sie Namen wie Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandekeybus, Alain Patel und Jan Fabre – alles Künstler, die die Grenzüberschreitung suchen.

„Ich denke immer das Lokale mit dem Internationalen zusammen“, sagt Vanackere, und diese enge Verzahnung zeigt sich vor allem an den Gästen, die sie ins HAU einlädt: She She Pop, Mette Ingvartsen, Jérôme Bel und Peaches arbeiten regelmäßig mit Vanackere zusammen. Viele kennt sie aus ihrer Zeit als Leiterin des international renommierten Rotterdamer Schouwburg. Zwei Jahre nach ihrem Antritt als Leiterin lobte 2014 das Fachmagazin „Theater heute“, sie habe das Hebbel am Ufer „noch internationaler ausgerichtet“.

Zum Festival „Power of the Powerless“ im Sommer 2015 schrieb Vanackere in der begleitenden Publikation: „Der Eindruck, dass sich die Verhältnisse, unter denen wir existieren, sowohl als Individuen wie auch als Gemeinschaft, immer weniger beeinflussen lassen, ist prägend für das Lebensgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ Mit ihrer Projektauswahl für das HAU stellt Annemie Vanackere nicht nur eine internationale Ausrichtung unter Beweis, sondern auch ihren Weitblick für zeitgenössische Probleme der Gesellschaft.

Wirtschaft und Kultur treffen sich am 29. und 30. Oktober im Tagesspiegelhaus zum Kulturinvest-Kongress. Mehr Informationen dazu gibt es auf der Website kulturmarken.de.

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