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Goethe

© dpa/FAZ

Kulturpolitik: Rest und Gesetz

Gehört Kultur als Staatsziel in die Verfassung? Bloß nicht: Man sollte besser die klassische Bildung fördern, meint Peter Raue.

Staatsziel Kultur! Staatsziel Kultur?“ Im lauschigen Schloss Neuhardenberg war dies Thema eines debattenreichen kulturpolitischen Wochenendes. Zur Eröffnung sprach der Berliner Rechtsanwalt und Kulturförderer Peter Raue: „Kultur ist das Ganze als Rest“. Wir drucken Raues Vortrag in gekürzter Fassung.

Brauchen wir ein Grundgesetz, dem der Satz zugefügt wird: „Der Staat schützt und fördert die Kultur“?

Es gibt keinen einzigen deutschen Politiker, der die Kultur nicht als Constituens unserer Gemeinschaft feiert und stattdessen zu sagen wagte, die Menschen wären auch glücklich, wenn es weniger Theater, Opernhäuser oder Museen gäbe. In Berlin ist die Kultur so wichtig, dass der Regierende Bürgermeister Last und Lust der Aufgaben des Kultursenators auf sich nimmt. Der Bundespräsident fordert den ganzen, werkgetreuen „Don Carlos“, die Kanzlerin gibt den Bayreuther Festspielen und der Operneröffnung in Oslo die Ehre ihrer Präsenz. So wundert es nicht, dass eine deutliche Mehrheit des Bundestages – gestützt durch die Enquetekommission Kultur – das „Staatsziel Kultur“ ins Grundgesetz aufnehmen will. Aber wie gehen die Politiker, die dafür kämpfen, mit der Kultur um?

So wichtig ist sie insbesondere den südlichen Bundesländern , dass sie mit Argusaugen darauf achten, dem Bund ja nicht zu viel Einfluss auf die kulturelle Szene der Bundesländer zu überlassen. Lieber verzichtet man auf Bundesgelder, als dass sie in Landeseinrichtungen fließen. Wird dieses Ländermonopol für Kultur aus Liebe zur Kultur so heftig verteidigt oder geht es vielmehr um eine „Mir-san-Mir“-Mentalität? Auch die Politiker Sachsens werden laut die unerlässliche Notwendigkeit und notwendige Unerlässlichkeit der Kultur rühmen und sind doch nicht davon abzubringen, ihr Weltkulturerbe zu gefährden, nur weil sie einen Brückenumbau für unabweisbar halten. Ob Staatsziel im Grundgesetz oder nicht, das ist für diesen Starrsinn völlig unerheblich.

In Bayern propagierte Ministerpräsident Stoiber den milliardenteuren Bau des Transrapids vom Hauptbahnhof zum Flughafen – weil der Mensch mit dieser Schnellbahn 20 Minuten Zeit sparen würde und der Ministerpräsident „in die Zukunft investieren will“. Zum gleichen Zeitpunkt hatte der damalige Finanzminister Faltlhauser unmissverständlich verkündet: „Das Geld für Kultur wird knapper, die Privaten müssen eingreifen, weil die öffentlichen Hände in Zukunft nicht mehr leisten können, was sie in der Vergangenheit geleistet haben“. Muss eine Investition in die Zukunft aber nicht in den Menschen investieren, in seine Bildung zum Beispiel?

Ist es sinnvoll, dass die politisch Verantwortlichen so viel Energie aufbringen, um dem Kulturbegriff verfassungsrechtliche Weihen zu verleihen, statt sie darauf zu verwenden, die Lebensnotwendigkeit der Kultur vor allem jungen Menschen zu vermitteln und einer immer rasanteren Eventkultur die Notwendigkeit des Innehaltens entgegen zu setzen?

Wer zum Beispiel sorgt dafür, dass dem Verrohen der Sprache – ich nenne hier nur beispielhaft die Zunahme von Anglizismen und die verkürzte Kommunikation per SMS – der Kampf angesagt, der Respekt vor und die Liebe zur Sprache entgegengelebt wird? Das berühmte Horvath’sche „Fühle deutlich, dass Sprache aufhöret“ erfährt jeder, der Gesetzesbegründungen oder politische Verlautbarungen zu lesen versucht. Was helfen alle Bekenntnisse zur Kultur, wenn es gleichzeitig möglich ist, dass ein 30-jähriger, mit Abitur ausgestatteter, aufgrund zweier guter Examina zum Anwalt zugelassener Kollege mir bekennt, dass er nicht ein einziges Stück von Goethe nennen könnte (nennen, nicht kennen)? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass in meiner von etwa 60 Studentinnen und Studenten besuchten Urheberrechtsvorlesung kein Einziger je auch nur eine Zeile von Thomas Mann gelesen hat?

Es ist Mode geworden, die großen Theaterklassiker in geradezu atemberaubenden Kurzfassungen zu präsentieren. In jüngster Zeit habe ich in Zweistundenfassungen oder gar noch kürzer erleben, meist erdulden müssen: Shakespeares „Sturm“, das grandiose Drama der „Maria Stuart“, die herzbewegenden „Drei Schwestern“ und, ach, den „Faust I“ und „Faust II“ sowie die umjubelte „Emilia Galotti“ im Deutschen Theater Berlin. Zugegeben, eine solche Fassung kann reizvoll sein. Doch das Stück, das uns die Dichter geschrieben haben, seine differenzierte Tragik und abgründige Komik, das alles bleibt auf der Strecke. Es gehört aber ebenso zu unserer Eventkultur, dass den Instant-Darbietungen das Großereignis mit acht bis zwölf Stunden Aufführungsdauer entgegengesetzt wird: Peter Steins „Wallenstein“ und jüngst im Wiener Burgtheater Stephan Kimmigs „Rosenkriege“.

Kultur ist das Ganze als Rest; dieser Satz entspringt dem Denken des Philosophen Michel de Certeau. Am Münchner Flughafen sah ich in diesen Tagen ein Plakat „Gebt uns den Rest“. Gemeint war: „Werfen Sie in eine Sparbüchse das Kleingeld einer fremden Währung, das Sie nicht mehr benötigen“. Auch das ist das „Ganze als Rest!“: Abschied vom Kleingeld. Vor diesem Hintergrund suche ich eine Antwort auf die Frage, ob der Satz „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Wozu diese Gesetzesänderung? In der Begründung heißt es, „ohne den Schutz und die Förderung durch den Staat“ sei es „unmöglich, das kulturelle Angebot zu erhalten“. Die öffentliche Finanzierung der Kultur „gerate unter Druck“. Das ist – mit Verlaub – dummes Zeug.

Neun Professoren und Verfassungsrechtler von Rang hat sich der Rechtsausschuss des Bundestages zur Frage „Staatsziel Kultur“ angehört: Vier streiten dafür, drei sind vehement dagegen, und zwei versuchen – da sie sich eigentlich für Sport als Staatsziel einsetzen –, auch die Kultur „zu Grundgesetzreife“ zu erheben, gleichsam im Huckepackverfahren.

Jede Änderung des Grundgesetzes, der Verfassung einer Nation muss sich als unabweisbar notwendig, als konstituierend für das Staatswohl und das der Bürger erweisen. Die Verfassung unseres Staates ist ein Meisterwerk, das vor allem ein Ziel hat: den Bürger vor Eingriffen des Staates in seine Freiheitsrechte zu bewahren. Es bekennt sich zur Menschenwürde und stellt die Handlungsfreiheit an den Beginn der Grundrechte. Somit sind Presse-, Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit die verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaats. Von besonderem Gewicht für unsere Frage ist Artikel 5 Absatz 3, der der Kunstfreiheit den höchsten Rang und die höchste Würde zugesteht: es ist das einzige Grundrecht, das schrankenlos formuliert ist („Kunst ist frei“). Dies verfassungsrechtliche Schwert für die bürgerlichen Freiheitsrechte wird stumpf und dumpf, je mehr man es mit Überflüssigem belastet. Es verliert dann seine Klarheit und Reinheit. Dummerweise ist der Sündenfall bereits geschehen. Mit der Grundgesetzänderung von 1992 mag man sich noch anfreunden, wonach „die Mitwirkung bei der Entwicklung der EU“ als Staatsziel ins Grundgesetz gerutscht ist. 1994 haben auch noch Umwelt- und Tierschutz Eingang gefunden, mit sprachlich monströsen, gedanklich wirren Sätzen. Nun liegt das Argument natürlich nahe: Wenn die Tiere im Grundgesetz krabbeln und bellen, warum sollte nicht auch die Kultur sich ein Nest bauen dürfen?

Wer sich für die Kultur im Grundgesetz einsetzt, muss schon konsequent sein. Nach heutigem Stand hat der Sport den Kampf um den Weg ins Grundgesetz verloren, die Kultur ist geblieben. Aber warum wird nicht das Recht auf sportliche Betätigung, der Schutz der Gebrechlichen, die Sicherheit der Alten, die Ausbildung der Jungen und die Förderung der Wissenschaft gleichermaßen als Staatsschutzziel ins Auge gefasst? Wie halten wir es mit dem Gleichheitssatz? Alle Länder der Bundesrepublik – mit Ausnahme von Hamburg – haben übrigens schon eine Kultur-Staatsklausel in der Landesverfassung. Nicht eine einzige gerichtliche Entscheidung der letzten 50 Jahre musste sich an diesen Klauseln messen lassen. Warum dann noch eine Staatsklausel? Genauso effektiv wäre es, ins Grundgesetz zu schreiben: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“

In der Gesamtschau der Grundgesetznormen ist die Kultur also ein längst gesicherter Bestandteil unserer Verfassung. So hat es etwa das Bundesverfassungsgericht 1970 festgehalten und 2002 erneut unmissverständlich formuliert: „Als objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst stellt die Verfassungsnorm des Artikels 5 Abs. 3 dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern.“ Das heißt, die Aufnahme der Kultur als Staatsziel wäre ein dummer Pleonasmus, eine schädliche Redundanz.

Wie viel klüger wäre es gewesen, wenn die Bundestagsabgeordneten anstelle der Anhörung zum Staatsziel Kultur Sachverständige einvernommen hätten, die ihnen erklären, wie wir den jungen Menschen das Gefühl für Sprache und Dichtung, die Lust an der Lektüre von Dostojewski, Fontane oder Flaubert und ein Gespür für die Größe von Grünewald, Goya und Rothko so nahe bringen können, dass sie unverzichtbarer Teil eines Lebens werden.

Staatsziel Kultur? Ja, aber im Leben, nicht im Grundgesetz.

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