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KUNST Stücke: Aufgeschlitzt

Thea Herold wundert sich darüber, was aus Abfall entstehen kann

Den knotigen Wanderstock, der an eine krumplige Vertikale aus Holz erinnert, hat die Künstlerin seltsam beleuchtet. Stückweise Farbröhren drangewickelt, grellbuntes Neonlicht, dann alles lax in die Ecke gestellt. Jetzt scheint das Ding als „Nightwalker“ die Wand mehr zu stützen, als an ihr zu lehnen. Eine grüne Plastiktüte, schlicht der Länge nach aufgeschlitzt und zur zerknitterten Fläche gemacht, wird von banaler Ventilatorluft gegen die Wand geblasen. Die „Sleep Machine“ ist fragil, fahrig, fallbereit. Unverdrossen haltbar. Wie auch dieses vertrocknete Herbstlaub, das im Sommer vom Wind langsam in die Balkonecke geweht wurde und jetzt im hellen Licht verwandelt und aufgehoben scheint. Im Sterben. Aber beruhigt. Die junge schwedische Künstlerin Nina Canell (geboren 1979 in Växjö) interessieren alltägliche Fundstücke, einfache Fragen oder längst bekannte physikalische Phänomene. Doch sie behandelt sie so, als wäre sie bei irischen Druiden in die Lehre gegangen. Knochen schweben, Dreiecke knarzen, Holz tänzelt und pulsiert. Dennoch reichen ihr einfachste Mittel und verdanken sich die verrätselten Versuchsanordnungen weniger einer sauteuren Software als vielmehr sagenhafter Fantasie. Barbara Wien hat die Dimension dieser Begabung im vergangenen Sommer auf der Liste in Basel erkannt, umgehend zur ersten Soloshow in ihre Galerie nach Berlin (Linienstraße 158, bis 24. Dezember; Arbeiten von 200-7500 Euro) eingeladen. Mitsamt aller notwendigen Hardware wie Zeitschaltuhr, Unterwasserschallempfänger, Knetmassen und dem ganzen wilden Kabelsalat. Gut so.

Auch auf den Fotografien von Ingo Mittelstaedt gibt es eine ebenso irritierende wie sinnliche Differenz zwischen dem, was man sieht und dem, wonach es aussieht. Das Auge lässt sich eben tatsächlich gern betrügen. Banales Kleinzeug, Abfall, Reste – das alles wirkt auf seinen Fotografien wunderschön. Und falls etwas von selbst schon schön und federleicht erscheint, aber noch unvollkommen, wird es mit Kalkül so aufreizend inszeniert, bis es enigmatisch, endlich glanzvoll vor Augen kommt. Gewohnte Zuordnungen werden durcheinandergewirbelt. Ästhetische Grundlinien der Kunstgeschichte, wie etwa das Stillleben, lässt der Fotograf einfach hinter sich, wohl wissend, dass das Auge des Betrachters für sein Tempo viel zu langsam ist. Sie lesen Perlen statt Tropfen, Silber statt Folie und rätselhafte Stofflichkeit, wo der Wind urbanen Unrat an einer Betonecke lustlos liegen ließ. Das Ganze ist der umwandelnden Kraft eines jungen Künstlers zu verdanken, der nüchtern wie ein Straßenkehrer, aber romantisch wie ein Dichter aus Rilkes Zeiten auf die Welt zu schauen scheint. Die C-Prints seiner ersten Berliner Soloausstellung hat er in Istanbul aufgenommen. Vor einem Jahr fiel er dem Galeristen Stefan Koal (Bergstraße 16, bis 15. November, Arbeiten von 750–1500 Euro) bei einer Studentenausstellung auf: Nach dieser Premiere in Berlin wird es für den gebürtigen Berliner wahrscheinlich richtig losgehen.

Thea Herold

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