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Schauspielerin Corinna Kirchhoff (Mitte) auf der Weidendammer Brücke.

© Michele Galassi

Kunst und Politik: Die Ausrufung der Republik

Das „European Balcony Project“ erinnert an den demokratischen Aufbruch von 1918 – und gründet symbolisch einen Vielvölkerstaat.

„Es ist Zeit, das Versprechen Europas zu verwirklichen und sich an die Gründungsidee des europäischen Einigungsprojekts zu erinnern.“ Die Schauspielerin Corinna Kirchhoff steht auf der Weidendammer Brücke zwischen dem S-Bahnhof Friedrichstraße und dem Berliner Ensemble und spricht in die kalte Berliner Nachmittagsluft.

Sie verliest ein vom österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, der deutschen Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und dem Schweizer Theatermacher Milo Rau verfasstes Manifest, das „in Ton und Stil“ an die Republik-Ausrufungen von 1918 erinnern will. Die Initiatoren nennen es das „European Balcony Project“. Zeitgleich mit Corinna Kirchhoff rezitieren am Samstag rund 150 Mitstreiter in ganz Europa den Text. Mit dabei sind unter anderen das Nationaltheater Gent, das Burgtheater Wien, das Museo del Mare di Napoli, das Bochumer Schauspielhaus oder auch das Hamburger Thalia Theater.

Rund 100 Menschen drängen sich um Corinna Kirchhoff

In Berlin findet die Aktion auch am Roten Rathaus statt, zum Abschluss einer Europa- und Städtekonferenz, im Kunstquartier Bethanien, wo Kultursenator Klaus Lederer als Sprecher in Erscheinung tritt, auf der Friedrichsbrücke an der Museumsinsel, wo das Junge Theater Kreuzberg zum Flashmob aufgerufen hat, sowie im Schöneberger Museum.

An die 100 Menschen haben sich an der Weidendammer Brücke um Corinna Kirchhoff versammelt, sie blockieren den Bürgersteig, sodass die Passanten auf die Straße ausweichen müssen. Angemeldet scheint die Aktion nicht zu sein, zumindest zeigt sich nirgendwo ein Polizist, der sich um den regelkonformen Verkehrsfluss kümmern könnte.

Über dem gusseisernen Reichsadler, der in der Mitte der 1896 erbauten Brücke thront, haben die „European Balcony Project“-Aktivisten eine kunterbunt gestreifte Fahne gehängt, aus der sich – bei ausreichender Sachkenntnis – die einzelnen Nationalflaggen der EU-Mitgliedsländer herauslesen lassen.

"Europäer ist jeder, der es sein will"

Frau Kirchhoff spricht in ein schwachbrüstiges Megaphon und hat es darum schwer, gegen den Lärm der vorbeifahrenden Busse und Autos anzukommen. Wer nicht zuvor im Internet auf der Website www.europeanbalconyproject.eu den Text des Manifests heruntergeladen hat und jetzt mitlesen kann, versteht kaum ein Wort.

Gerade erklärt die Schauspielerin „alle, die sich in diesem Augenblick in Europa befinden“, zu Bürgerinnen und Bürgern der „Europäischen Republik“ und fordert dazu auf, das universale Erbe der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte anzunehmen und diese endlich zu verwirklichen. „Wir sind uns bewusst, dass der Reichtum Europas auf Jahrhunderten der Ausbeutung anderer Kontinente und der Unterdrückung anderer Kulturen beruht. Wir teilen deshalb unseren Boden mit jenen, die wir von ihrem vertrieben haben. Europäer ist, wer es sein will. Die Europäische Republik ist der erste Schritt auf dem Weg zur globalen Demokratie.“

Von den Ausflugsbooten, die auf der Spree vorbeifahren, winken Leute hinauf. „Der Europäische Rat ist abgesetzt“, rezitiert die Schauspielerin. „An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Es lebe die Europäische Republik!“. Die Sympathisanten klatschen ausdauernd, und damit die ganze Aktion nicht gar so schnell vorbei ist, wird der Text anschließend erneut vorgetragen, diesmal von den Organisatoren, die jeweils nach einem Absatz das Megaphon weiterreichen. Dann beginnt sich die Menge langsam zu zerstreuen, wer mag, kann noch Infomaterial mitnehmen. Um 16.12 Uhr ist die Aktion vorbei, langsam senkt sich die Dämmerung über die Hauptstadt.

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