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"Kunst & Textil" in Wolfsburg: Woraus die Träume sind

Stoff als Inspiration: eine ungewöhnliche Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg.

Eine Frau bei der Arbeit. Um 1869 malt Edgar Degas „Die Büglerin“, ein Motiv voller Querverweise und Anspielungen. Die gebauschte Gardine auf dem Bügelbrett imitiert den Faltenwurf eines gemalten Kleides, die hängende Wäsche hinter der Figur lässt an abstrakte, in Weißnuancen schwelgende Bilder denken. Die helle Bluse des Mädchens antwortet auf die Stofflichkeit der Umgebung. Dass es bügelt, ahnt man bloß anhand der Situation: Das heiße Eisen besteht aus kaum mehr als ein paar schnellen, dunklen Pinselstrichen.

Kleidung kommt vor Kunst. Erst wenn der Körper eingehüllt, halbwegs geborgen und temperiert ist, kann sich der Geist entfalten. Degas erzählt, so gesehen, von der Genese der Malerei. Der Stoff, mit dem die Frau arbeitet, muss seine schützende Funktion nicht länger erfüllen. Er entfernt sich vom Körper, entfaltet ein Eigenleben im – gemalten – Faltenwurf oder als Leinwand und wird so zum Bild im Bild. Degas’ Kunstgriff lässt das Gemälde aus der Münchner Neuen Pinakothek zum Schlüsselwerk der Ausstellung „Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute“ werden.

Mit 200 Exponaten von 140 Künstlern – darunter Lucio Fontana, Sigmar Polke, Chiharu Shoita, Louise Bourgeois, Imi Knoebel oder Blinky Palermo, aber auch anonymen Produzenten – führt das Kunstmuseum Wolfsburg vor, wie beides miteinander verknüpft ist: der konkrete, handwerklich produzierte Faden und die immaterielle Linie. Von einem zum anderen scheint es nur ein winziger Schritt. Fred Sandbacks Installation aus rotem Acrylgarn scheint der anschauliche Beweis dafür zu sein. Der amerikanische Künstler vollzog in den späten sechziger Jahren den Schritt von der linearen Fläche in den Raum, indem er Fäden in diversen Farben zwischen Decke und Boden verspannte.

Eine Geste, so simpel wie poetisch – und doch unerhört. Denn die Linie symbolisiert das Vermögen zur Abstraktion. Sie führt weg von Faden und Gewebtem, die sich unmittelbar mit dem Leben verbinden und deshalb stets zweitrangig sind. Dass sich das Stoffliche in der Moderne stets unterzuordnen hatte, macht nicht zuletzt das Bauhaus sichtbar: Hier landeten, allen reformerischen Ideen zum Trotz, die Künstlerinnen zumeist in den Webklassen. Ihre Aufgabe war es, sich um das weiblich konnotierte Kunsthandwerk zu kümmern.

Fluch und Segen dieser Entwicklung war die industrielle Revolution; das macht der hervorragende, mit Aufsätzen gespickte Katalog zur Ausstellung noch einmal klar. Der technische Fortschritt perfektionierte auch die Arbeit am Webstuhl. Sein Versprechen war eine gleichbleibende Qualität, man könnte auch sagen: makellose Langeweile. Und doch minderten ab diesem Moment all die kleinen Unregelmäßigkeiten, die vom Handgemachten zeugen, den Wert einer Arbeit, die sich doch perfekter machen ließ.

Mit diesem Wendepunkt setzt die Wolfsburger Ausstellung ein. Selbst wenn sie als Auftakt Artefakte alter und außereuropäischer Kulturen präsentiert, geht es im Kern doch um die ästhetischen Wechselbewegungen seit 1900. Gustav Klimt, der die opulenten Kleider seiner weiblichen Modelle täuschend echt erscheinen lässt – und damit sein Talent als Maler dokumentiert – schließt an die echten textilen Objekte eines Henry van de Velde an: Der Star des Jugendstils entwarf, seine Frau nähte.

Mit den beiden Bauhaus-Künstlerinnen Anni Albers und Sophie Taeuber-Arp, die ab 1916 die Textilklasse an der Zürcher Kunstgewerbeschule leiteten, beginnt im Ausstellungsrundgang über zwei Stockwerke hinweg jene Phase produktiver Auseinandersetzung, die die traditionelle Arbeitsteilung nicht länger hinnimmt. Anhand Anni Albers’ „La Luz I“, ein abstraktes Webbild aus Hanfgras und Metallfäden, oder Sophie Taeuber-Arps Wollstickerei aus Pionierzeiten offenbaren sich die Strategien der Kritik. Sie machen deutlich, wie viel produktive Wut, Energie und welchen Witz dieser Widerstand freisetzt. In Rosemarie Trockels amorpher Fusselskulptur von 1986, ein „Monster“ aus Wolle, münden alle Vorbehalte und Aggressionen zum Thema. In dem Werk der Konzeptkünstlerin, die mit zwanzig Werken vertreten ist, klingen ebenso Lucio Fontanas berühmte Schnitte durch farbige Leinwände an wie Louise Bourgeois’ Mutterspinnen, die ihre Opfer in Netzen fesseln. Ebenso spielt das von Pierrette Bloch verwendete Rosshaar hinein – allesamt Arbeiten der siebziger Jahre, deren angemessene Würdigung in der Kunstgeschichte noch aussteht. Jener Epoche entstammen ein paar der eindringlichsten Werke der Ausstellung: etwa von der jung verstorbenen Eva Hesse, der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz oder der Japanerin Yayoi Kusama. Deren dekorative Allover-Dessins auf Leinwänden wie Kleidern sind heute gleichermaßen begehrt.

In den Folgejahren lässt sich das Textile nicht mehr aus der Kunst verbannen. Von Joseph Beuys über Mike Kelley mit seinen schön-schaurigen Kuscheltieren bis hin zum knapp 40-jährigen Sergej Jensen, der seine soften, ungegenständlichen Kompositionen aus gewebten Resten näht, verbindet sich die Gegenwartskunst mit dem vielfältig aufgeladenen Material. Wer Stoffe verwendet, der weiß um ihre Vergangenheit und rollt den Faden entlang der historischen Widersprüche unerbittlich auf.

So ist es kein Wunder, wenn sich der Kunstbetrieb in regelmäßigen Abständen auf dieses Potenzial besinnt. Ausstellungen zu diesem Thema häufen sich in letzter Zeit. So rückte die Münchner Neue Pinakothek etwa Teppiche in den Vordergrund, oder die jüngst eröffnete Schau „To Open Eyes“ in der Kunsthalle Bielefeld zeigt andere Arbeiten derselben und ähnliche Arbeiten anderer Künstler. Gerade erst ist die Ausstellung „Textiles: Open Letter“ im Mönchengladbacher Museum Abteiberg zu Ende gegangen.

Das Wolfsburger Projekt ist sicher das ambitionierteste. Es lässt den Besucher durch sinnliche Räume und intime Kabinette wandeln. Mit ihrer Tendenz zur Ausweitung werden allerdings die Grenzen eines solchen Vorhabens sichtbar. Durch Peter Koglers Computersimulation soll am Ende sogar noch das digitale Netz eingemeindet werden, weil es die Menschheit global miteinander verwebt und das Stoffmuster der Zukunft bildet. Doch dieser Faden bleibt ohne Verknüpfung.

Kunstmuseum Wolfsburg, bis 2. 3.; Katalog (HatjeCantz Verlag) 42 €.

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