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Kunstfestival: Stark im Schwarm

Am Freitag beginnt das Festival „48 Stunden Neukölln“. Es zieht immer mehr Künstler in den einstigen Schmuddelbezirk. Ein Rundgang durch den Kreativkiez der Stadt

Parasiten und Krankheitserreger haben es Jason Benedict angetan. Auf seinen Bildern tummeln sich bunte Stäbchenbakterien, eine bläulich-schwarze Zecke hockt auf einem überdimensionalen Gemälde mitten in seinem Atelier. Es geht ihm um die unsichtbare Gefahr, die den Menschen Angst macht, weil da anscheinend etwas ist, gegen das sie ohnmächtig sind, das sich unaufhaltsam ausbreitet.

Als Künstler, der in Neukölln lebt und arbeitet, könnte der 1977 in Seattle geborene Benedict selbst als eine Art Blutsauger und Überträger des Gentrifizierungskeims gesehen werden: Wie er kommen immer mehr Künstler aus der ganzen Welt, um hier zu leben und zu arbeiten. Neukölln ist angesagt – das zeigen auch die steigenden Mieten.

Vor 30 Jahren war das ganz anders. Die Neuköllner Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland beobachtet schon seit ihrem Amtsantritt 1981 die Entwicklung der Szene. Bei einer Erhebung kam sie damals auf 50 Künstler im Bezirk, der Großteil von ihnen war über 65 Jahre alt. Die Entwicklung in den vergangenen Jahren beschreibt sie als „unglaublich rasant“. Allein beim „48 Stunden Neukölln“-Festival, das am heutigen Freitag beginnt, sind über 300 Angebote vertreten. „Es ist mittlerweile unüberschaubar geworden.“

Und das ist ein Problem. Einerseits machen die künstlerischen Aktivitäten den Bezirk attraktiv, andererseits reicht der Etat aus Programmen wie „Soziale Stadt“ nicht mehr aus für den Ansturm an Förderungsanfragen. Das „Kulturnetzwerk Neukölln“, ein Zusammenschluss von Vereinen und Institutionen wie dem Kulturamt oder der Kulturwerkstatt, die jedes Jahr den Beitrag Neuköllns zum Karneval der Kulturen vorbereitet, fordert mittlerweile in einer Petition an den Senat: „Erhaltet die Neuköllner Kunstszene!“ Das klingt nach Polemik – wieso sollte man etwas erhalten, was doch fröhlich vor sich hin wuchert? Doch genau das ist der Punkt: Neukölln droht an seinem eigenen Wildwuchs zu ersticken.

„Bei den Künstlern ist es wie mit der Immigration. Der eine zieht den anderen nach“, beschreibt Kulturbeamtin Kolland den Strukturwandel. „Die ,48 Stunde’ waren sicherlich auch ein Anreiz, nach Neukölln zu kommen. Schließlich brauchen Künstler eine Plattform, um sich zu zeigen.“ Außerdem habe sich das „Kulturnetzwerk“ als offenes System von Solidarität bewährt.

Genau an diese Solidarität appelliert die Kunstmanagerin Nadine Lorenz. „Es ist bei vielen angekommen, dass man es nur gemeinsam schafft.“ Die studierte Soziologin ist eine von zwei Geschäftsführerinnen der „WerkStadt“, einer „Künstlergewerkschaft“, wie Mitglied Jason Benedict das Konglomerat aus Ateliers und Ausstellungsräumen nennt. Die Aktivisten wollen keine Parasiten sein, sondern in Symbiose mit dem Kiez leben. Nicht nur nehmen, sondern auch geben.

Lorenz und Benedict sitzen im Café der Initiative im Körnerkiez, das jeden Abend für Anwohner öffnet. „Meistens denken die Leute, hier ist eine normale Bar und kommen einfach rein“, sagt die 31-jährige Lorenz. Der Raum wirkt wie ein gemütliches Eckcafé, nicht wie ein elitärer Künstlertreff. „Wir wollen den Zugang zur Kunst möglichst einfach machen.“

Ihre Initiative ist wiederum Mitglied bei den „Körnerkomplizen“, einem Zusammenschluss von Kreativen und Gewerbetreibenden. Dessen bekanntestes Projekt ist das „Körnerschnitzel“, eine Schnitzeljagd, die ursprünglich Laufkundschaft in die Läden locken sollte. Vom türkischen Bäcker bis zur Physiotherapiepraxis, vom Autoteilehändler bis zum Jazz- Programmkino ist bei den „Körnerkomplizen“ die Vielfalt des Kiezes vertreten. Der Mix stimmt, findet Jason Benedict. „Durch die Mischung aus den ethnischen Berlinern und den neuen gibt es eine besondere Energie, alle wollen etwas machen!“

Dies ist bei einem Spaziergang durch den Kiez zu spüren: Überall hängen Plakate, die Fußballbegeisterte zum „Körnercup“ einladen, die Stadtteilzeitung „Körnerpost“ liegt zum Mitnehmen aus, die „48 Stunden“ sind groß angekündigt. Ursprünglich war das Kulturfestival der Anlass, die „WerkStadt“ als „Kunstfiliale“ ins Leben zu rufen, die die künstlerischen Aktivitäten im Kiez koordinieren sollte.

Heute geht die Arbeit von Lorenz und ihren Kollegen weit darüber hinaus. An den Fensterscheiben des zweiten Atelierhauses der Initiative prangen bunte Krakeleien vom letzten Kinderfest. „Wir haben schon viel abgewischt, aber ein Nachbar sagt uns, wir sollten die Malereien doch dranlassen, die seien so schön“, lacht Benedict. Es gibt auch eine Hörspiel-AG, wo Schulkinder einmal in der Woche mit Aufnahmegeräten und Geräuscheffekten experimentieren können.

Das ist ganz in Dorothea Kollands Sinn: „Wir brauchen Künstler, die auch bereit sind, in die Schulen zu gehen und mit den Kindern zu arbeiten“, sagt die Kulturamtsleiterin. „Honigsauger können wir nicht gebrauchen“ – also Künstler, die von niedrigen Mieten profitieren und bei steigenden Preisen in den nächsten Bezirk schwirren.

Zecken-Künstler Jason Benedict will kein Honigsauger sein: „Wir wollen langfristig hierbleiben“, stellt er klar. Das „Körnerkomplizen“-Netzwerk versucht, der Gentrifizierung entgegenzuwirken, indem die Mitglieder sich gegenseitig informieren, wenn ein Atelierplatz oder ein Ladengeschäft frei werden. Auch mit den Nachbarn pflegen die „WerkStadt“-Künstler guten Kontakt. Manchmal findet jemand einen Eimer Farbe oder Werkzeug im Keller und fragt die Künstler, ob sie noch Verwendung dafür haben. „Es gibt ein Dorfgefühl hier, das ist etwas ganz Besonderes“, begründet Benedict seine Faszination für Neukölln.

Herrscht also friedliches Beisammensein im einstigen sozialen Brennpunkt? Der Künstler und die Soziologin sind nicht blind für Integrationsprobleme und Verständigungsschwierigkeiten. „Aber wir sehen die Kunst auch als Brücke, wir wollen jetzt vermehrt arabische und türkische Künstler ausstellen“, sagt Nadine Lorenz. Und fügt lächelnd hinzu: „Neukölln ist ein Rohdiamant. Den wollen wir gar nicht schleifen. Der gefällt uns so.“

48 Stunden Neukölln: Kunst, Theater, Lesungen, Führungen und Feste auf Straßen und Plätzen, in Kleingärten, Galerien, Theatern und Kneipen. 17.–19. Juni, 19–19 Uhr. Infos: www.48-stunden-neukoelln.de

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