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Unauffindbar. Der Münchner Maler Ernst Liebermann (1869–1960) schuf das Ölgemälde „Nymphenburg“ im Jahr 1910.

© Abb. aus „Die Jugend“, 1913, Heft 43, S. 125/Museum Charlottenburg

Kunstsuche: Das verschollene Herz

450 Exponate zählte die Kunstsammlung Charlottenburg vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Forschungen und eine Ausstellung belegen: Dreiviertel davon sind verschwunden. Eine Spurensuche in der Villa Oppenheim.

Wer nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin als Künstler arbeiten wollte, brauchte einen sogenannten Persilschein. Die Alliierten mussten ihn oder sie vom Verdacht des Nationalsozialismus „reinwaschen“: Eine Arbeit, die sich nicht ohne Papierstapel erledigen ließ. Doch Papier war kaum zu bekommen. Improvisation war gefragt. In Charlottenburg zerriss deshalb ein findiger Angestellter alte Karteikarten, spannte sie in seine Schreibmaschine und tippte auf die leeren Rückseiten mehr oder weniger entlastende Biografien.

Heute ist wieder die Vorderseite der Karten wichtig. Denn dort stehen in alter deutscher Schreibschrift Wörter und Satzfragmente wie „erworben im Atelier des Künstlers“ – „Ausstellung im Deutschen Reichstag“ – „verloren gegangen“. Die zerrissenen Karten ergeben eines der wenigen Verzeichnisse, die Aufschluss über die Kunstsammlung Charlottenburg geben. Kaiserreich, Weimarer Republik, Hitler und zwei Weltkriege hat sie erlebt und teilweise überstanden. Von den etwa 450 Exponaten, die einst zur Sammlung gehörten, ist allerdings nur noch ein Viertel vorhanden. Der Rest: verloren, vergessen, verschollen.

„Bis vor acht Jahren war nicht bekannt, dass es die Sammlung Charlottenburg überhaupt gab“, sagt Sabine Meister, die als Kunsthistorikerin nach den vermissten Objekten sucht. Sie hat die Ausstellung „Spurensuche. Die Kunstsammlung Charlottenburg 1908–1945“ in der Villa Oppenheim kuratiert. Dort können Besucher alle Werke besichtigen, die von der Sammlung Charlottenburg noch vorhanden sind. Eigentlich sind das gar nicht so wenige, darunter herausragende Gemälde von Max Liebermann oder Hans Baluschek. Früher hingen sie im Büro des Charlottenburger Bürgermeisters oder anderen Amtsstuben. Doch Sabine Meister rauscht relativ achtlos an ihnen vorbei. Sie interessiert sich vor allem für die Bilder, die nicht da sind.

Vor acht Jahren hörte sie zum ersten Mal den Namen Raussendorff. Wie vielen Berlinern war er ihr nur als Titel eines Seniorenstifts im Westend bekannt, das damals umziehen musste. Doch Antonie und Hugo Raussendorff, wohlhabende Eheleute der Jahrhundertwende, waren neben ihrem sozialen Engagement auch begeisterte Kunstsammler. Die DoktorHugo-Raussendorff-Stiftung, benannt nach ihrem früh verstorbenen Sohn Hugo junior, förderte Künstler und kaufte etliche ihrer Arbeiten. Nach dem Tod des Ehepaars 1911 ging die Kollektion mangels Erben an die Stadt Charlottenburg. Dort gab es bereits eine eigene „Kunstdeputation“: Magistrat, Fachpersonal und Bürger kümmerten sich ab 1908 um den Erwerb und die Verwaltung von Kunstobjekten. „Charlottenburg war reich und wimmelte von Künstlern und Mäzenen“, sagt Meister. Die Sammlung Raussendorff und die Objekte der Kunstdeputation verschmolzen zur Kunstsammlung Charlottenburg. Im Jahr 1917 gab es eine erste Ausstellung.

Was seine Sammlung anging, war Raussendorff ein Pedant. Jedes seiner Kunstwerke ließ er katalogisieren. „Ich glaube außerdem, dass er alle Objekte fotografieren ließ“, sagt Meister. Ein Foto, das auf 1890 datiert wird und eine zu Raussendorffs Sammlung gehörende Skulptur zeigt, stützt ihre These. Was mit den anderen Aufnahmen geschehen ist, weiß sie nicht. Immerhin kann sie mittels Raussendorffs Katalog fast alle Gemälde und Skulpturen identifizieren, die heute als Herzstück der Sammlung Charlottenburg gelten. Nur: Fast keines davon ist noch da. Mit immenser Geduld suchte Meister in Archiven nach alten Katalogen und Zeitschriften, die Abbildungen der Kunstwerke enthalten. Kopien und Reproduktionen hängen jetzt in der Villa Oppenheim.

Manche Werke stellen sogar Meister vor ein unlösbares Rätsel. Etwa die 60 Zentimeter hohe Büste von Raussendorff selbst, die der Bildhauer Fritz Heinemann 1893 schuf. Bis in die neunziger Jahre stand sie in besagtem Seniorenstift. Seit dem Umzug ist sie spurlos verschwunden. Einen konkreten Verdacht will Meister nicht aussprechen, sagt aber: „Da muss sich jemand einfach bedient haben.“

Besonders bitter sind Fälle von Kunstwerken, die zwar vorhanden, doch der Villa Oppenheim nicht mehr zugänglich sind. Etwa wie die Bronze eines chinesischen Bogenschützen, der über Irrungen und Wirrungen in Berliner Privatbesitz gelangte. Legal, wie die Kuratorin betont. Dort, in einem Berliner Wohnzimmer, befindet sie sich noch heute. Meister sagt: „Wir wissen, wer die Skulptur besitzt, und warum. Aber die Person überlässt sie uns nicht einmal zu Ausstellungszwecken.“

Ähnlich verhält es sich mit Otto Heinrich Engels Gemälde „Friesische Braut“, das aus der Kunstsammlung verschwand, in den Siebzigern aber plötzlich wieder in einem Münchner Auktionshaus auftauchte. Wegen seines Titels gelangte es als Geschenk nach Friesland – und hängt heute im Museum auf Föhr. Die Villa Oppenheim bekam immerhin die Erlaubnis, eine Reproduktion zu zeigen.

Die meisten Kunstwerke sind aber tatsächlich verschollen – viele auch aus ideologischen Gründen. „Fallender Krieger“, eine 1913 von Wilhelm Gerstel geschaffene Statue, verschwand mit Beginn des Nationalsozialismus. Obwohl es noch keine Beweise gibt, ist sich Meister sicher, dass die Sammlung ab 1933 im Sinne des NS-Gedankenguts überarbeitet wurde. Dafür sprechen auch vermisste Ölporträts von Eugen Spiro, einem jüdischen Künstler der Berliner Secession, der unter Hitler zunächst nach Paris, dann nach New York emigrierte. Dafür hielt Nazi-Kunst Einzug in die Sammlung. Doch auch sie ist heute nicht mehr auffindbar – weil nach dem Krieg nicht nur Künstlerbiografien, sondern auch ganze Kunstsammlungen entnazifiziert wurden.

Alle Exponate zu finden, wird wohl unmöglich sein: Etliche sind vermutlich verbrannt, oder – wie Meister von Skulpturen vermutet – in den letzten Kriegstagen eingeschmolzen geworden. Wenn sie sich ein Gemälde zurückwünschen dürfte, würde sie sich für „Schloss Nymphenburg“ von Ernst Liebermann entscheiden. Dieses Bild war bis in die Fünfziger nachweisbar – bevor es verschwand.

Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim, Schloßstr. 55, bis 31.3., Di–Fr 10–17 Uhr, Sa/So 11–17 Uhr

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